Nicht nur am Leben bleiben. Vera Wendt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Vera Wendt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347058965
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Mathilde, aber trotz ihrer 62 Jahre noch gut zu Fuß. Die strengen Züge ihres Gesichts wurden durch die kurzen, grauen Haare betont. Scharfe Falten hatten sich in den Kriegsjahren vertieft und ließen es noch härter erscheinen. Aber jetzt liefen Tränen über ihr Gesicht und sie schien völlig aufgelöst.

      „Gut, dass du kommst“, stammelte sie schluchzend, „wir hatten Dich nicht so früh erwartet. Elsbeth … “ Die Mutter konnte nicht mehr weiterreden.

      Mathilde rannte zur Laube, aus der sie schon schreckliches Schreien hörte. Sie sah ihr Kind und wusste, dass Frau Winterstein Recht gehabt hatte. Elsbeth war völlig verändert, hochrot, sie hatte Fieber und ihre Gliedmaßen verkrampften sich immer mehr. Mathilde versuchte sie anzulegen, aber das Kind wollte nicht an der Brust trinken.

      „Was ist passiert?“, fragte sie entsetzt.

      „Es gab eine schwere Explosion, ich weiß nicht genau, wo“, gab die Mutter Auskunft. „Wir alle spürten die Druckwelle. Seitdem schreit sie so schrecklich und lässt sich nicht beruhigen, sie will auch nichts trinken. Vater ist schon vor zwei Stunden ins Dorf gelaufen, er hofft, einen Arzt zu finden, der nicht für den Kriegseinsatz verpflichtet wurde.“

      Mathilde versuchte, ihre Tochter zu beruhigen und in den Schlaf zu wiegen, sie trug sie herum, ging mit ihr durch den Garten, legte sie wieder an – nichts half.

      Gegen Mitternacht hörte sie Schritte im Garten. Ihr Vater kam, offensichtlich erschöpft, denn er schlurfte und ging langsam. Obwohl genauso alt wie die Mutter, erschien er deutlich schwächer und weniger ausdauernd als sie. Seine Glatze und die Brillengläser glänzten im schwachen Licht der Petroleumlampe. Hinter ihm ging ein gebeugter, weißhaariger Herr mit einem kleinen Köfferchen.

      „In Mittendorf gibt es keinen Arzt mehr. Ich musste zwei Dörfer weiter gehen, um Dr. Bartels zu finden“, stöhnte der Vater. Tiefe Besorgnis spiegelte sich in seinem Gesicht, das normalerweise einen sanften und gütigen Ausdruck hatte.

      „Wegen meines fortgeschrittenen Alters praktiziere ich seit 10 Jahren nicht mehr“, erklärte der Doktor, „aber vielleicht kann ich Ihnen trotzdem behilflich sein.“

      Der Arzt betrachtete Elsbeth, hörte sie ab, untersuchte ihre Reflexe und Mathilde merkte, wie er mit den Tränen kämpfte. Seine Diagnose war eindeutig.

      „Bei Babys in diesem Alter ist die große Fontanelle noch nicht vollständig geschlossen, die Explosion hat deshalb Teile des Gehirns zerstört, die nicht zu ersetzen sind. Vermutlich sind das Schlaf- und das Wachstumszentrum unwiederbringlich verloren, und es könnte auch andere Regionen betreffen.“

      „Wird sie sterben?“, fragte Mathilde mit Bangigkeit in der Stimme.

      „Vermutlich ja. Wenn sie überlebt, was sehr unwahrscheinlich ist, wird sie blind und geistig behindert bleiben. Aber ich glaube, sie ist nicht zu retten. Wenn ich Medikamente hätte, könnte ich ihr etwas zur Beruhigung und zur Linderung der Krämpfe geben, aber ich habe keine. Es ist alles für die Front und die Lazarette requiriert worden. So kann ich nichts zur Verbesserung der Lage tun und, glauben Sie mir, das ist für einen alten Mediziner sehr bitter.“

      Mathilde sagte nichts mehr. Der Arzt berichtete von dem Gerücht, dass die Russen einen vom Krieg übrig gebliebenen deutschen Munitionszug auf einem Abstellgleis versehentlich gesprengt hätten, weil sie die deutschen Zünder nicht kannten. Es sollten später noch viele Gerüchte über die Ursache der Explosion in Umlauf kommen, sie interessierten Mathilde nicht.

      Doktor Bartels verabschiedete sich, strich Mathilde sanft übers Haar und sagte: „Ich mache mich auf den Weg, denn ich habe noch einen Fußmarsch von zwei Stunden vor mir und ich kann Ihnen nicht helfen. Sie sind jung und können noch mehr Kinder kriegen, aber ich weiß, das ist jetzt kein Trost und in dieser Zeit erst recht nicht. Jedenfalls wünsche ich Ihnen Gottes Segen.“

      Mathilde schluchzte. Von wegen jung! Ihr 37. Geburtstag nahte, sie wusste nicht, ob ihr Mann überhaupt noch lebte und wenn, wann und in welchem Zustand er zu ihr zurückkehren würde. Sie würde nur noch wenige Jahre in der Lage sein, Kinder zu bekommen. War es ihr von Gott bestimmtes Schicksal, kinderlos zu bleiben? Bisher hatte sie trotz all dem Elend um sie herum Haltung bewahrt, aber jetzt ergriff sie Verzweiflung. Sie weinte haltlos und konnte nicht aufhören. Ihre Mutter versuchte vergeblich, sie zu trösten und zu beruhigen.

      Elsbeth starb nach neun Tagen. Aus ihrem Schreien wurde ein Wimmern. Sie litt sichtbar schlimme Schmerzen und ihre Krampfanfälle waren so furchtbar, dass Mathilde in ihren Gebeten Gott darum bat, sie bald zu sich zu holen.

      Sie begruben das kleine Wesen in einem schlichten Holzsarg unter einer alten Linde. Der Pfarrer sprach von der Herrlichkeit Gottes, bei der die kleine Elsbeth nun weilte, von den Prüfungen, die der Herr den Seinen auferlegt, und vom festen Glauben, der die Menschen bei Schicksalsschlägen tröstet und aufrichtet. Mathilde hörte es wie von ferne. Ihre Zukunft erschien ihr als eine endlose Reihe von grauen, traurigen Tagen, ohne Hoffnung auf bessere Zeiten.

       2

      Aber sie war nicht allein. Da waren noch die Eltern, die in den schweren Zeiten immer für sie da gewesen waren und auch jetzt alles taten, um ihr das Leben leichter zu machen. Sie fühlte sich verantwortlich für sie. Daher zwang sie sich weiterzuleben, was ihr oft schwer fiel. Tagsüber ließ sie sich nichts anmerken, doch der Gedanke, dieses nutzlos gewordene Leben ohne Zukunft aufzugeben und einfach einzuschlafen ohne wieder aufzuwachen, kam ihr in schlaflosen Nächten immer wieder. Doch ihre Eltern brauchten sie und würden sie mit zunehmendem Alter noch mehr brauchen. Mit Anfang 60 fiel ihnen die Gartenarbeit schwerer als früher. Beim Vater machte sich zudem seine Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg stärker bemerkbar. Er war im Schützengraben verschüttet gewesen und litt seitdem unter Schwindel- und Ohnmachtsanfällen, die unvorhersehbar und auch keiner bestimmten Situation zuzuordnen waren. Deshalb hatte er nach dem Krieg nicht in den erlernten Beruf als Konditormeister zurückkehren können, sondern die Familie mühsam mit unregelmäßigen Anstellungen als Kellner oder Küchenhilfe über Wasser gehalten. Die Heimarbeit ihrer Mutter, die auf der alten, schmiedeeisernen Nähmaschine Stofftiere nähte, sicherte ein kleines regelmäßiges Einkommen, sodass sie trotz Inflation und Weltwirtschaftskrise keinen schlimmen Hunger leiden mussten. Aber Geld war immer knapp gewesen und es gab deswegen auch viel Streit zwischen den Eltern.

      Obwohl es zuhause sehr ärmlich zuging, hatte Mathilde Abitur machen können. Den Freiplatz auf dem Lyzeum, wie man damals die Mädchengymnasien nannte, musste sie sich jedes Jahr wieder durch gute Noten erarbeiten und mit der modischen Kleidung der Mitschülerinnen konnte sie nie mithalten. Nach dem Abitur wäre sie gerne Ärztin geworden, aber ein Studium war finanziell unmöglich. So lernte sie Stenografie und Maschineschreiben und arbeitete in diversen Büros, bis sie Gustav heiratete und in seiner Firma anfing. Obwohl sie nicht studieren konnte, betrachtete sie die Jahre auf dem Lyzeum als wertvoll. Sie hatte die Gelegenheit gehabt, Sprachen zu lernen und Bücher zu lesen. Durch ihre Mitschülerinnen erfuhr sie von einem Leben jenseits der winzigen Eineinhalb-Zimmer-Wohnung mit Toilette auf halber Treppe im Seitenflügel, einem Leben ohne finanzielle Sorgen, von dem sie seither träumte. Und sie hatte drei Freundinnen gewonnen, die mit ihr Abitur gemacht hatten. Wo mochten sie jetzt wohl sein?

      Ihre Bildung half ihr im Moment nicht beim Überleben, der Garten dafür umso mehr. Sie und die Eltern steckten alle Kraft in den Anbau von Obst und Gemüse, denn es war nicht zu erwarten, dass sich die Versorgung im Winter bessern würde. Zum Glück trugen die alten Apfelbäume reichlich Früchte, die zum großen Teil lagerfähig waren. Die anderen verarbeitete sie mit ihrer Mutter zu Apfelmus und Kompott, wofür sie ihre gesamte Zuckerration verbrauchten. Oder sie tauschte sie bei Besuchen in Berlin gegen andere Lebensmittel ein.

      Immerhin gab es inzwischen regelmäßig Brot auf Marken. Sie hatte den Garten schon vor dem Krieg erworben und in diesen Jahren gute Kontakte zur Nachbarschaft und den Bauern im Dorf aufgebaut. Das half ihr jetzt, Kartoffeln und andere Nahrungsmittel zu besorgen. Wie das im Winter werden sollte, konnte sie sich noch nicht vorstellen. Sie musste eine Möglichkeit finden, Kartoffeln zentnerweise einzukellern, sonst würden sie verhungern.

      Der tägliche Kampf um Nahrungsmittel erforderte viele Fußmärsche und kostete sie all ihre Kraft. Dennoch