Nicht nur am Leben bleiben. Vera Wendt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Vera Wendt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347058965
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Mittel in Aussicht gestellt, um noch vor Wintereinbruch teilzerstörte Häuser notdürftig zu reparieren und ihres würde dazugehören.

      „Haben Sie schon etwas von Ihrem Mann gehört?“, fragte die alte Dame voller Anteilnahme.

      „Leider nein, er war zuletzt an der Ostfront. Vielleicht hat er überlebt und ist in Gefangenschaft, aber ich habe keinerlei Nachricht“, antwortete Mathilde traurig. Sie merkte, wie ihr die Tränen hochstiegen. Immer, wenn sie an Gustav dachte, standen die schrecklichen Erzählungen von sowjetischen Kriegsgefangenenlagern vor ihrem inneren Auge. Oder sie malte sich aus, wie er in den russischen Weiten umgekommen war. Zum Glück hatte sie meistens viel mit der Versorgung der Familie und der Fürsorge für ihre Tochter zu tun, sodass sie abends todmüde ins Bett fiel und nicht ständig grübelte. Aber oft, wenn sie ihre Tochter so fröhlich sah, fragte sie sich, wie lange sie wohl ohne Vater aufwachsen musste.

      „Ich kann mir vorstellen, dass die Ungewissheit Ihnen zu schaffen macht“, sagte Frau Winterstein und streichelte Ihre Hand. „Aber vielleicht kann ich etwas für Sie tun. Es funktioniert nicht immer, aber manchmal kann ich Dinge sehen, die andere nicht sehen.“

      „Wie meinen Sie das?“, fragte Mathilde erstaunt.

      „Nun, es gibt Menschen, die - wie soll ich sagen – bestimmte Schwingungen aufnehmen können so wie die Antenne beim Radio. Ich habe diese Gabe. Wie Sie wissen, ist mein Mann schon vor vielen Jahren und viel zu früh gestorben, ich hatte nur eine kleine Rente und da habe ich diese Fähigkeiten genutzt und vervollkommnet.“

      „Dann sind Sie also so eine Art – Wahrsagerin?“, fragte Mathilde erstaunt.

      „So kann man es nennen. Ich ziehe allerdings den Ausdruck „seelische Beraterin“ vor. Die Zukunft kann ich nicht voraussagen, aber ich kann manchmal Hinweise geben, und das war vielen Leuten etwas wert.“

      „Und wie können sie mir dadurch helfen?“ Mathilde war immer noch total verwirrt.

      „Wenn Sie einverstanden sind, würde ich in eine Glaskugel sehen. Ich habe es lange nicht mehr gemacht, seit dem Tod meiner Katzen nicht mehr. Die Kugel hatte ich versteckt und zum Glück haben die Russen sie nicht gefunden, als sie hier herummarodierten. Versprechen kann ich Ihnen nichts, aber wir können probieren, ob ich etwas sehe. Geld nehme ich von Ihnen nicht dafür, Sie und Ihre Eltern waren immer so nett zu mir und außerdem – wer hat heute schon Geld?“

      Mathilde konnte sich zwar nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte, aber ihre Neugier war geweckt und sie erklärte sich einverstanden.

      Frau Winterstein zog die Vorhänge zu und zündete einige Kerzen an. „Vorkriegsware, war auch versteckt“, flüsterte sie. Dann holte sie ein Kästchen aus einem verschlossenen Schrank. Sie nahm einen in grünes Tuch eingepackten Gegenstand heraus, entfernte den Stoff und legte die Glaskugel auf ein Tuch aus rotem Samt. Der Stoff und die Kerzen spiegelten sich im Glas und gaben der Kugel ein farbiges und geheimnisvolles Aussehen. Mathilde war erstaunt, wie schnell die Außenwelt mit all ihrer Zerstörung für sie verschwand und eine weihevolle Stimmung von ihr Besitz ergriff.

      „Ich muss mich sehr konzentrieren, das fällt mir ohne meine Katzen schwer“, sagte Frau Winterstein leise. „Es wäre gut, wenn Sie versuchen würden, alle Gedanken auszuschalten und in die Kugel zu sehen.“

      Mathilde starrte gespannt in die Kugel. Es herrschte eine Weile Schweigen.

      „Ich sehe einen Schatten, es ist auf alle Fälle ein Mann, das könnte Ihr Mann sein, er ist weit weg“, sagte Frau Winterstein schließlich und ihre Stimme schien aus einer anderen Welt zu kommen.

      „Und ich sehe ein Kind“, fuhr sie fort. „Was sagten Sie, wo Ihre Tochter jetzt ist?“

      „Im Garten in Mittendorf, zusammen mit meinen Eltern“, antwortete Mathilde. Etwas in der Stimme der alten Dame machte ihr Angst.

      „Das Kind ist in Gefahr. Es gibt einen bedrohlichen Schatten in seiner Nähe, keine Person, aber etwas, was der Kleinen schadet. Ich kann keine Einzelheiten sehen, aber es sieht so aus, als ob Ihr Kind Sie dringend braucht.“

      Frau Winterstein bedeckte die Kugel wieder mit dem grünen Tuch und lehnte sich in ihren Sessel zurück. Sie machte einen erschöpften Eindruck.

      Mathilde fror, ihre Hände zitterten und an ihren Armen machte sich Gänsehaut breit. Sie konnte den Schatten fast fühlen und eine unbändige Angst kroch in ihr hoch. Ihre kleine Elsbeth – sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr etwas passieren könnte. Sie war bei ihren Eltern in guten Händen und der Bombenkrieg war vorbei. Vielleicht war das alles Humbug, vielleicht machte Frau Winterstein sich nur wichtig - wäre sie doch bloß nicht zu ihr gegangen!

      „Sind Sie ganz sicher?“, fragte sie angstvoll.

      „Sicher ist in dieser Welt gar nichts. Ich bin überzeugt, dass ein Kind in Gefahr ist, das mit Ihnen zu tun hat. Gesichter kann ich nicht sehen. Aber ich würde an Ihrer Stelle sofort dorthin fahren, wo Ihr Kind ist.“

      Die Ernsthaftigkeit im Tonfall beeindruckte Mathilde. „Dann laufe ich jetzt zum Bahnhof und fahre zurück“, sagte sie entschlossen.

      „Ich kann Ihnen nur alles Gute wünschen“, verabschiedete sich Frau Winterstein. „Grüßen Sie Ihre Eltern und besuchen Sie mich, wenn Sie wieder in Berlin sind. Sie finden hinaus, ich kann noch nicht aufstehen, die Sitzung hat mich viel Kraft gekostet.“

      Mathilde nahm ihren Rucksack und schloss leise die Tür. Dann eilte sie hinaus zur nächsten Straßenbahnhaltestelle und schlug sich bis zum Bahnhof durch. Die Vorortbahn nach Mittendorf sollte nach Auskunft des Bahnhofswärters zwei Stunden später fahren, aber es wurden drei Stunden. Sie hatte zwar noch Brot in ihrem Rucksack, aber sie konnte nichts essen. Die Sorge um ihr Kind bestimmte alle ihre Gedanken. Nein, es durfte nicht sein, dass Frau Wintersteins Ahnung zutraf, das wäre sehr ungerecht vom Schicksal. Sie hatte zwei Jahre zuvor schon ein Kind tot gebären müssen. Das ständige Hoch und Runter aus dem 5. Stock wegen Bombenalarms, der stundenlange schlaflose Aufenthalt im Keller, die schlechte Versorgungslage und schließlich der Zusammenbruch des Hauses nach einem Treffer, all das war dem kleinen Jungen wohl zu viel gewesen. Alle im Luftschutzkeller hatten überlebt, aber er verabschiedete sich von dieser Welt, bevor er sie erreichte. Mathilde hatte gefühlt, dass etwas nicht stimmte, das Kind sich nicht mehr bewegte, und lief zu Fuß von Prenzlauer Berg zur Charité, die trotz Bombenangriffen einen Notdienst aufrechterhielt. Dort musste sie stundenlang warten, man kümmerte sich offenbar erst einmal um die Frau eines Parteibonzen, wie ihr der Pförtner mit Bitterkeit verriet. Schließlich stellte die Hebamme fest, dass das Kind tot war und man gab ihr wehenfördernde Mittel. Die mühsame Geburt im 7. Monat hatte sie noch in schrecklichster Erinnerung. Sie hatte protestiert, als die Schwestern ihn einfach wegbringen wollten. Er sah so lebendig aus, im Gesicht Gustav ähnlich, wie sie fand, aber die graue Farbe seiner Haut war die der Verwesung. Schließlich nahmen sie ihn ihr weg und gaben ihr ein Schlafmittel. Als sie aufwachte, war er nicht mehr da, sie vermutete, längst im Medizinmüll gelandet. Sie hatte drei Tage lang nicht mit dem Weinen aufhören können.

      Als sie nach Gustavs übernächstem Fronturlaub zu ihrer Freude wieder schwanger war, konnte sie die letzten Wochen auf dem Lande in Pommern verbringen, wo keine Bomben fielen. Einer von Gustavs vielen Onkeln war dort Pfarrer. Das Kind kam am Nikolaustag 1944 gesund zur Welt. Und nun sollte es in Gefahr sein – nein, nein, sie wehrte sich gegen diesen Gedanken. Das ganze Getue mit der Glaskugel war Hokuspokus. Aber den ernsten Ton und das spontane Erschrecken der Wahrsagerin konnte sie nicht vergessen.

      Energisch setzte sie ihre Ellenbogen ein, um in den Zug zu kommen, ungeachtet der bösen Kommentare von rechts und links. Der Zug hielt auf den Gleisen kurz vor dem Bahnhof und alle mussten aussteigen oder besser gesagt herausspringen. Der Bahnhof war bei der Hinfahrt noch intakt gewesen, aber jetzt war er zerstört. Überall lagen zerbrochene Dachziegel und Glasscherben herum. Es war schon spät, aber noch so hell, dass sie Verwüstungen in den Gärten erkennen konnte, abgeknickte Bäume, Beete, die wie plattgewalzt aussahen, rechteckige Löcher im Mauerwerk, wo vorher Fenster gewesen waren. Doch sie konnte nirgendwo Brandspuren entdecken. Zunehmend alarmiert versuchte sie, so schnell wie möglich die Laube zu erreichen.

      Als