Das Kino bin ich. Robin Becker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robin Becker
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347075559
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Festgelände werden zehn Minuten nach Mitternacht ein paar unspektakuläre Raketen in den Himmel geschossen. Nach guten Vorsätzen ist mir überhaupt nicht. Ich fühle mich einsam und ungeliebt. Genauer gesagt, ich bin von mir selbst enttäuscht. Ich jage mein ganzes Leben nun schon den falschen Dingen nach … „Danke, Herr Psychoanalytiker, gut dass wir mal darüber gesprochen haben“, denke ich laut, und lache gegen meine Traurigkeit an, die schließlich doch die Oberhand gewinnt. Worüber ich konkret weine, weiß ich nicht, und ich weiß es doch. Und eines Tages werde ich mich all dem stellen.

      Nach nicht einmal zwei Jahren Beziehung wurde es richtig schlimm, wir hatten jeglichen Respekt voreinander verloren. Da wusste ich auch noch nicht, was ihr angeblich in meiner Abwesenheit widerfahren war … Wo war ich stehengeblieben? – Ach, genau. Sie drohte mit Selbstmord, wenn ich wieder abhaue, aus dem Fenster wollte sie springen. Ich habe sie an den Haaren von der Fensterbank geholt. Das war ein kräftezehrendes Drama, sie schloss mich mit ihr zusammen in ihrem Zimmer ein, drang wieder zum Fenster. Da platzte mir dann der Kragen, den Selbstmord würde ich ihr abnehmen, drohte ich, wenn sie nicht sofort den Schlüssel herausrückte. Diese elende Krankenschwester war schlank wie ein Model, aber sehr zäh, sie hatte Kraft wie ein Holzfäller. Doch ich geriet mächtig in Rage, verlor die Kontrolle, niemand hatte das Recht, so mit mir herumzuspringen. Irgendwann hatte ich den Schlüssel und ein zerkratztes Gesicht, sie ein zugeschwollenes Auge, den rechten Arm ausgerenkt und Nasenbluten, dass es nur so plitschte. Es war furchtbar, das Schlimmste, was passieren konnte. Wir waren wirklich am Ende, mir tat es furchtbar leid, ich wollte gehen, ich musste, so etwas durfte nie wieder geschehen, sollte sie sich doch umbringen. Kaum war sie über mich hinweggekommen, klingelte ich bei ihr, nachdem ich in Paris, Madrid, Lissabon, an der Algarve und in Marokko gewesen war. Wir waren beide ganz ausgehungert vor Liebeslust, der Sex brachte uns wieder zusammen.

      ***

      Lena ist in der Nacht nicht nachhause gekommen, wie ich in Erfahrung bringe. Ich frühstücke alleine auf der Dachterrasse mit Blick auf den Tümpel, an dem zwei Frauen und ein Mädchen Wäsche waschen, sodass sich Schaumkronen bilden, die in der Sonne in Regenbogenfarben leuchten und beinah schöner als die Seerosen sind. Einer der Zwillinge kommt um Punkt Elf an meinen Tisch und stellt mir meinen Fahrer vor, der Velu heißt und mich rein optisch an Charles Bronson in klein erinnert, den ich als Kind wegen seiner stahlblauen Augen, dem bedrohlichen Lächeln und seiner linkischen, zuweilen kompromisslosen Art verehrt habe. Er war ein Mann der wenigen Worte, dem der Gemütszustand stets ins Gesicht geschrieben stand.

      Velus weißes Fahrzeug sieht von hier oben gegenüber der einfachen Behausung einer Großfamilie, die um ein kleines Feuer auf dem Boden sitzt und Reis mit den Händen isst, wie ein Ding aus einer völlig anderen Welt aus. Ich frage, ob wir die Fahrt auf zwölf Uhr verschieben könnten. Er wiegt den Kopf hin und her, ist schließlich einverstanden, nachdem ich ihm einen Kaffee bestellt habe. Der Zwilling bringt ihm die Tageszeitung, die er mit finsterer Miene liest. Ich hole mir derweilen meinen Roman, lese ebenfalls, bekomme aber diesmal keinen Zugang zu der Geschichte, die mir vor drei Tagen noch gut gefallen hat. Komischerweise sehe ich hinter beinah jedem Satz den Autor vor meinem inneren Auge, der ein ziemlich schrulliger französischer Intellektueller ist, mit dem ich mich gerne mal über Sartre, Céline und die Zukunft der Menschheit unterhalten würde.

      Um zwölf spendiere ich Velu noch einen Kaffee und verschiebe die Abfahrt auf ein Uhr, was er mit einem Mikronicken zur Kenntnis nimmt. Der andere Zwilling kommt auf die Dachterrasse, grüßt uns heiter und unterhält sich mit meinem Fahrer auf Hindi, während er die Pflanzen gießt. Auch wenn ich kein einziges Wort verstehe , die Sprache gefällt mir, sie klingt harmonisch und weich. Ich unterbreche sie und frage den Zwilling, ob er eine Ahnung hat, wo Lena sein könnte, doch er hat keinen blassen Schimmer. Ich erwäge, sie suchen zu gehen, entscheide mich aber dagegen, weil sonst komme ich hier gar nicht mehr weg, befürchte ich. Um zwei Uhr fahren wir letztendlich ohne Lena los. Ich habe ihr eine Nachricht und meine E-Mail-Adresse hinterlassen, ihr geschrieben, dass ich mir Sorgen gemacht habe, sicher unbegründet, ihr für alles gedankt, mich auf ein Wiedersehen freue. Frohes neues Jahr!

      Der Wagen ist geräumig und sauber, am Rückspiegel baumelt eine blaue Figur, die auf einer Kuh reitet und Flöte spielt. Die Fenster sind geschlossen, weil die Klimaanlage angeschaltet ist. Ich sitze hinterm Beifahrersitz wie in einer Limousine, bin aus allem raus, muss nichts machen, das Draußen ist zugleich nah und weit entfernt, gleitet stumm an mir vorüber. Die Menschen auf den Straßen wirken beschäftigt wie Armeisen, die gelassen übereinander herkrabbeln. Ich vermute in ihnen eine innere Grundleere, von der ich nur lernen kann. In meinem Kopf geht es ja meistens munter zu. Vielen wäre das sicherlich zu viel, mir ja auch, zugegeben, manchmal gehe ich mir regelrecht auf die Nerven. Und dennoch, ich lasse den Geist machen, der ich ja selbst bin, vertraue mir, wenn es gut läuft, versuche nicht zu hadern, nicht zu kritisch mit mir zu sein – und wenn dann doch, na gut, auch okay … Der Dalai Lama meint, man müsse seinen Geist bändigen, sonst bringe er einem Krankheit und Leid. Deshalb gibt es ja die ganzen Meditationsübungen und die Mantras. Für mich ist das nichts. Ich bin alles, was ist. Warum sollte ich weniger sein wollen? Ein jeder belügt sich auf seine Weise – auch der Klügste oder Weiseste oder Leerste oder Erleuchteste unter uns. Da braucht sich niemand etwas vorzumachen, auch nicht der Dalai Lama.

      Velu fragt mich, nachdem wir die Stadt hinter uns gelassen haben und im Windschatten eines Lkws an einem nicht enden wollenden Maisfeld entlangfahren, ob ich Hunger habe. Ich verneine, aber wenn er will, soll er ruhig anhalten, ich habe es nicht eilig, sage ich. Im nächsten Dorf parkt er am Straßenrand. Ich setze mir die Sonnenbrille auf, steige aus und begleite ihn. Sechs, sieben Bretterbuden bieten gekochten, gegrillten und frittierten Mais, sonstige Speisen, Werkzeuge, Wasser in Plastikflaschen, das teurer ist als das Benzin in den Wasserflaschen. Ich kaufe mir Wasser und frage Velu, ob ich gerade den Touristenpreis bezahlt habe, und er sagt, nein, die Wasserpreise sind stark gestiegen, seit Indien sein Grundwasser an die Konzerne verkauft hat, und spuckt aus. Ich schaue mir die Flasche genauer an, in winziger Schrift steht unten Nestlé drauf.

      Der Geruch nach Zimt und warmer Milch steigt mir in die Nase. Wir kommen an Männern vorbei, die schweigend Chai trinken und mich ausdruckslos betrachten. Frauen sehe ich keine, die sind wohl allesamt zuhause. Hunde liegen im Schatten und rühren sich nicht. Drei Kühe versuchen die Straße zu überqueren, ein Auto hupt sie zurück. Vor uns hält ein Bus, Kinder in Schuluniform und mit großen Schulranzen auf dem Rücken kommen aus ihm herausgesummt wie ein Schwarm Bienen in einer Welt voller Blumen. Sie winken uns vergnügt, was wir erwidern. Einige der Männer in den Bretterbuden lächeln dezent über den Anblick der Kinder und wirken plötzlich lebendiger. Es gibt wirklich nichts Heilsameres als Kinder, denke ich.

      Velu bekommt frittierte Gemüsebällchen aus Mais und Kichererbsen mit verschiedenen Soßen zum Dippen. Ich nehme auch eine Portion und bin überrascht, wie lecker es ist. Er freut sich, dass es mir schmeckt und fragt mich, wie mir Indien gefalle. Ich schaue an ihm vorbei, beobachte die Kinder, die eines nach dem anderen von ihrer Mutter abgeholt werden, und die mit ihrer Fröhlichkeit und den ordentlichen Uniformen überhaupt nicht zum Rest des Dorfes passen, das mir wie provisorisch hingezimmert vorkommt.

      Ich antworte Velu, dass ich mir in diesem Land bisher ziemlich fremd vorkomme und mich das Gewissen plagt, weil es hier so viele arme Menschen gibt, deren Anblick mir kaum erlaubt, mich selbst zu bedauern. Und wie ich mich so reden höre, unterstelle ich mir, dass ich ziemlichen Blödsinn von mir gebe, weil es mir nicht zusteht, über andere zu urteilen, schon gar nicht, wenn ich nicht den Hauch einer Ahnung habe, wie es ist, zum Beispiel hier umgeben von Feldern zu leben. Dennoch frage ich mich, wo sollen die Kinder hier spielen? Ich blicke flüchtig in die Gesichter der Erwachsenen, wüsste gerne, was sie bewegt und worüber sie gerade nachdenken, und mich beschleicht das Gefühl, sie sind genauso unglücklich wie ich. Sie haben aber den Vorteil, dass sie wiedergeboren werden. Ihr nahender Tod hat somit keinen Biss, meiner schon.

      Velu blickt kauend an mir vorbei in den blauen Himmel , unter dem das brusthohe Maisfeld so grün leuchtet wie ein Bergsee in den Alpen. Ich entschuldige mich bei ihm, sage, dass ich erst seit zwei Tagen in Indien bin und nichts über dieses Land weiß, außer, dass hier irgendwo meine ehemalige Freundin herumschwirrt, die ich suche.

      Wieder im Auto sitzend erzählt er mit wenigen Blicken in den