Ich gehe erst mal auf die Dachterrasse, bestelle gegrillten Fisch und Reis, und schaue über ein großes Gelände auf die Rückseite einer riesigen Bühne. Lena kommt zu mir an meinen Tisch, sitzen will sie nicht, sie sagt nur, da würden gleich indische Tänze aufgeführt. Sie sei zum Essen verabredet, ein Freund habe sie zu sich in die Familie eingeladen, wir würden uns morgen zum Frühstücken sehen.
Mir schwirrt das Wort Silvester im Kopf herum. Sollte ich diesen Übergang von einem Jahr ins nächste alleine verbringen? Es scheint so. Lena hat schon genug für mich getan. Ich nicke nur, sie dreht sich um, verschwindet, ohne noch irgendetwas zu sagen. Als ich sie auf der Straße unter mir sehe, rufe ich, sie solle gut ins neue Jahr kommen. Sie wirft mir einen verschlossenen Blick zu, sagt: „Du auch!“ Winken tut sie nicht, sie hat es eilig.
Ein Typ mit Stoppelfrisur und verblasster grüner Tätowierung auf dem Unterarm, der mir gestern schon irgendwo aufgefallen war, stellt sich neben mich, nickt mir mit roten Kifferaugen zu und zündet sich einen Joint an. Rauch hüllt ihn ein, der intensiv nach Gras riecht. Ich will mir gerade bei einem der Zwillinge eine Limonade bestellen, da hält der Typ mir den Joint unter die Nase und sagt: „Power Skung.“ Und grinst eine Grimasse, die mich an Halloween erinnert.
Ich zögere, will heute nicht schon wieder kiffen.
„Best stuff for Silvester.“
Na gut, denke ich. Zwei, drei Züge können nicht schaden. Wir bemühen uns um ein Gespräch, doch er spricht praktisch nur Russisch. Und eh ich mich versehe, fühle ich mich wie entstellt, als wäre der Kürbiskopf mein Spiegelbild. Ich verabschiede mich.
Mein Zimmer ist total verqualmt, Atmen kaum möglich, ich knipse das Licht an, schmeiße das Räucherzeug vor die Tür, schließe ab und schalte den Deckenventilator an, der eine Weile braucht, um ins Rotieren zu kommen. Bei Stufe vier habe ich das Gefühl, mein Zimmer wird jeden Moment abheben. Der Wind tut zwar gut, doch der Hubschrauberlärm nervt, weshalb ich zwei Gänge zurückschalte. Ich schaue mich nach Mücken um, bewege die Vorhänge, wo sie gerne lauern. Ganz offensichtlich hat es sie tatsächlich alle dahingerafft.
Ich ziehe mich aus, will kalt duschen, in der Hoffnung etwas nüchterner zu werden. Nur leider kommt kaum Wasser aus der Brause, und richtig kalt ist es auch nicht. Ich trockne mich mit einem winzigen Handtuch ab, das die Zwillinge mir mit einem Stück Seife auf den Spülkasten der Toilette gelegt haben.
Als ich mich in dem Spiegel mustere, der an der Tür des Kleiderschranks hängt, bin ich etwas enttäuscht. Ich habe erwartet, ich würde kräftiger aussehen. Dabei sind meine Arme eher schlank, meine Brust flach, der Bauch steht ein wenig wegen meinem Hohlkreuz vor, die Beine sind okay. Von der Seite sehe ich fast wie ein Fragezeichen aus, das auf dem Kopf steht. Doch immerhin finde ich mich von vorne einigermaßen attraktiv, der Anblick meines Penis und des Hodens erregt mich gar, sodass ich Lust bekomme, mir einen runterzuholen. Mit ein bisschen Fantasie und Fingerspitzengefühl – Von einer Sekunde auf die nächste stehe ich im Dunkeln mit meiner wilden Sexfantasie, den Schwanz in der Hand, der schneller erschlafft, als mir lieb ist. Ich taste mich bis zu meinem Bett und lege mich hin. Der Deckenventilator kommt allmählich zum Stillstand. Ich lausche in die Dunkelheit, höre eine Mücke, die den Giftgasanschlag überlebt hat, Stimmen und dumpfe Trommelklänge. Als die Mücke sich dem Geräusch und Gefühl nach auf meiner linken Wange niederlässt, haue ich mir zaghaft eine runter. Ob ich die Mücke erwischt habe, bezweifle ich. Ich versuche mich zu entspannen, indem ich mich aufs Atmen konzentriere und auf nichts eingehe, was mir so unangemeldet durch den Kopf geht, und sage mir, ja, ja, nun lass mal gut sein, das wird schon, viel zu jung, ach, ach … So, jetzt bin ich halt in Indien. Das mit dem Wichsen lassen wir heute mal. Obwohl, warum eigentlich?
So richtig einschlafen, tue ich zwar nicht, aber immerhin ein bisschen. Laut meiner Armbanduhr habe ich eine gute Stunde gedöst. Das Fest scheint dem Geräuschpegel nach voll im Gange zu sein. Ich raffe mich in die Senkrechte, ziehe mich an, zwänge mich in meine blauen Turnschuhe, beschließe, mir bald vernünftige Sandalen und eine kurze Hose zu kaufen.
Die Trommel-, Flöten- und Gitarrenklänge werden lauter, je mehr ich mich dem vorderen Geländer der Dachterrasse nähere. Von dort sehe ich vor der Bühne Leute unter bunten Lampions sitzen. Ich ringe mich dazu durch, mir das Ganze aus der Nähe anzuschauen.
Das Festival kostet keinen Eintritt, das Gelände bietet für bestimmt über zwei, dreitausend Leute Platz, ich schätze vierhundert sind zugegen, wobei das schwer zu sagen ist, vielleicht sind es auch nur dreihundert. Sicherheitsleute sind keine zu sehen, was in Deutschland undenkbar wäre. Gut situierte indische Familien mit Kindern, die Fangen spielen, und Touristen aus aller Welt sitzen auf Plastikstühlen, bestaunen den golden glitzernden Synchrontanz von verschleierten Schönheiten. Sie tanzen breitbeinig, die Körperteile ruckartig von sich werfend, drehend und mit Arm- und Fußreifen rasselnd, einer Choreografie folgend, die mir Schwindel bereitet. Einige Minuten halte ich durch, dann gehe ich mir eine medizinballgroße grüne Kokosnuss mit Strohhalm kaufen, an dem ich nuckle und sauge, als wäre es das Wunderbarste der Welt, dabei schmeckt es eigentlich nicht viel anders als leicht gesüßtes Wasser mit einem Hauch von Irgendwas. Doch genau dieses Irgendwas macht die Wirkung aus, denn ich fühle mich zunehmend erfrischt, klar und munter wie schon lange nicht mehr. Ich schlendere an gut beleuchteten Ständen vorbei, die Speisen, Schmuck, Plastikspielzeug und die üblichen Götter aus Granit verkaufen.
Ich würde meine leergeschlürfte Kokosnuss gerne in einen Mülleimer schmeißen, doch weit und breit ist keiner zu sehen. Einer der Verkäufer bietet mir an, sie zu entsorgen, wenn ich ihn richtig verstehe. Doch er spaltet sie mit einem kleinen Beil, kratzt das Essbare heraus, das weiß und glibberig ist, und reicht es mir in einem Stück Kokosnussschale. Ich esse das Zeug, das ein bisschen wie Sperma schmeckt, bedanke mich. Er lacht, ich weiß nicht warum, und schmeißt die Kokosnussabfälle hinter sich in die Düne.
Am Ende des Weges fängt ein für mich unbekannter Strandabschnitt an. Meine Augen brauchen einen Moment, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnen. Der Strand scheint nach rechts endlos lang zu sein. Zur linken Seite erkenne ich Zäune und die Silhouette des hinkelsteinförmigen Tempels, den ich heute Mittag durch mein Fernglas gesehen habe. Ich gehe geradewegs auf ein Kinderkarussell zu und schaue es mir genauer an. Das Karussell ist sehr alt, es wird mit einer Handkurbel angetrieben, die sich aber leider nicht bewegen lässt. Über dem Ozean taucht der Mond zwischen den Wolken auf, er sieht aus, als würde er auf dem Rücken liegen und in die Sterne schauen. Supermann fehlt sein rechter Superarm, erkenne ich. An ihm vorbei sehe ich Kinder, die auf das Karussell zulaufen, lachen, kreischen, sich um die gesichtslose Micky Maus, Pippi Langstrumpf, der eines ihrer beiden Zöpfe fehlt, das zerkratzte Einhorn, ein Boot, in dem ein Liebespaar sitzt und der Fährmann steht, streiten. Auf dem kaputten Feuerwehrauto und den kopflosen Schwänen will verständlicherweise keines der Kinder sitzen. Nachdem sie sich geeinigt haben, rufen sie etwas, das ich nicht verstehe, meinen wohl, ich solle kurbeln.
Ich sage: „Is broken.“ Und versuche vergebens, das Karussell auf andere Weise zum Drehen zu bringen. Die Kinder haben trotzdem ihre Freude, sie probieren ihr Englisch aus, wollen wissen, wie ich heiße, wie es mir geht und wo ich herkomme. Zum Abschied winken sie mir, was ich nett finde, und ich winke ebenfalls, während ich näher an die Wasserkante herangehe. Der Ozean hat sich im Vergleich zu heute Nachmittag eindeutig beruhigt, er plätschert verhältnismäßig leise vor sich hin. Das Wasser glitzert matt im Mondschein.
***
Ich stehe allein auf der Dachterrasse meiner Unterkunft und warte darauf, dass das neue Jahr endlich beginnt. „Kopf hoch, Jungs. Mund abputzen und weiter machen“,