Darum hatte man ihn nicht zweimal bitten müssen. Und zum Glück waren die Verletzungen aus dem Lager zu diesem Zeitpunkt schon so gut verheilt gewesen, dass er die glückliche Braut tatsächlich mühelos ihrem Bräutigam hatte entgegentragen können. Für ihn war das rückblickend der persönliche Höhepunkt dieser unvergesslichen Tage voller Musik und Tanz, gutem Essen, Geschichten und Gelächter im Kreis fröhlicher Menschen, die Zeenath mitsamt ihrer Pflegefamilie freudig in ihrem Kreis willkommen hießen. Kashmiryat reinsten Wassers, dachte er. Kein Zank, kein Streit, keine Aversionen zwischen Nadims muslimischen Angehörigen und Vertretern anderer Religionen wie Vikram, Sameera, Sita und ihm – einfach nur ein harmonisches Miteinander in Frieden und Freundschaft. Warum um alles in der Welt konnte das nicht immer und überall so funktionieren wie hier? War es denn wirklich so schwer?
Mit einem Mal verspürte er eine unendliche Traurigkeit. Er faltete Zeenaths Brief zusammen, drückte den gesamten Stapel kurz an seine Lippen, legte ihn wieder zurück in den goldfarbenen Kasten mit den bunten Vögeln und schloss den Deckel.
Kapitel 3
Krieg und Frieden
Zeit, sagte sich Sameera Sandeep zwei Tage vor Weihnachten, war durchaus relativ. Bis zum gestrigen Tag war sie förmlich dahingerast, ausgefüllt mit den üblichen Vorbereitungen für das vertraute und geliebte Fest… und natürlich hatten die Kinder besonders gern bei allem mitgeholfen, weil sie wussten, dass in diesem Jahr Raja, Sita und Rani wieder dabei sein würden. Sameera lächelte, als sie sich an die gemeinsam gefeierten Weihnachtstage vor zwei Jahren erinnerte – und an Rani, die damals gerade erst vier gewesen war und sich restlos in den reichlich gefallenen Schnee verliebt hatte, in dem man so herrlich spielen konnte.
Jetzt war die Zeitspanne bis zu dem lang erwarteten Besuch auf weniger als eine Stunde zusammengeschrumpft, die sich auf fast unerträgliche Weise in die Länge zog. Vor wenigen Minuten hatte sie Yussuf der Küche verwiesen – nicht nur, damit er sich nicht ständig an den Leckereien vergriff, die nicht mehr in den Kühlschrank gepasst hatten, sondern vor allem, um ihn daran zu hindern, alle fünf Minuten nachzufragen, wo Vikram baba blieb und warum die Rückfahrt vom Flughafen in Srinagar denn so lange dauerte.
Sameera umrundete die Babydecke, die auf dem Boden ausgebreitet lag. Mohan saß darauf, von einer Sammlung bunter Bauklötzchen umgeben; sitzen konnte er seit knapp einem Monat. Während sie ans Fenster trat, registrierte sie aus den Augenwinkeln, dass er zuerst nach einem roten Klötzchen langte und sich dann nach vorn auf die Hände fallen ließ. Er wiegte sich einen kurzen Moment vor und zurück, dann plumpste er auf die Seite und gab ein ziemlich frustriertes Quäken von sich.
Sie bückte sich und nahm ihn auf den Arm. »Langsam, Herzblatt«, flüsterte sie in das seidig weiche Haar auf seinem Kopf hinein, »du musst dich nicht ärgern, dass du noch nicht richtig krabbeln kannst… das lernst du früh genug.« Sehr früh sogar, wie es aussah – wenn ihr Sohn in dem Tempo weitermachte, würden sie demnächst oben im ersten Stock ein Schutzgitter anbringen müssen, damit er bei seinen Erkundungstouren nicht irgendwann aus Versehen die Treppe hinunterfiel.
Mohan deutete aus dem Fenster. »Da!«, sagte er. Sameera schaute hinaus; bis jetzt war in diesem Jahr kaum Schnee gefallen, aber die Wettervorhersage machte ihr Hoffnung auf weiße Weihnachten. Sie hoffte, dass das zutraf… vor allem für Rani, die sich so sehr auf die kalte Pracht freute.
»Ammi? Wo soll ich die hinstellen?«
Moussa war hereingekommen. Er trug einen Korb mit Äpfeln vor sich her; Sameera hatte beschlossen, endlich wieder mal Bratäpfel zu machen. Mit einer Paste aus gerösteten, karamellisierten Mandeln, Butter, Vanille und Rosinen würden sie am Abend einen köstlichen Nachtisch abgeben.
Sie sah sich um und seufzte. »Da, wo du zwischen all den Schüsseln noch Platz findest«, sagte sie. »Und bevor du fragst: Nein, Vikram baba hat sich nicht gemeldet, und ich weiß auch nicht, ob der Flieger schon gelandet ist.«
Moussa lachte. »Ich wollte doch gar nicht fragen«, erwiderte er. »Ich hab Yussuf übrigens in den Schuppen geschickt, zu Ibrahim, zum Feuerholzspalten. So hat er was zu tun und lässt dich in Ruhe. Vielleicht hängt er sich auch an Rizwan und dreht seine nächste Wachrunde mit, das macht er ja öfter – auf jeden Fall ist er aus dem Weg.«
»Du bist ein Schatz, mein Sohn.« Sie warf ihm einen liebevollen Blick zu. »Sind die beiden Gästezimmer fertig?«
»Klar. Ameera hat vor einer halben Stunde die Gardinen wieder aufgehängt, und ich stell jetzt noch ein bisschen Obst auf.«
Er holte eine Schale aus dem Schrank, suchte ein paar besonders schöne Äpfel aus und legte sie hinein, bevor er mit seiner Ausbeute wieder aus der Küche verschwand.
Sameera trug Mohan hinaus und nach oben. Sie setzte ihn auf dem weichen Wollteppich in seinem Kinderzimmer ab und trat wieder ans Fenster. Von hier aus hatte man einen guten Ausblick auf das andere Ende des kleinen Tales und auf die Hauptstraße… und plötzlich entdeckte sie den Kleinbus des Dar-as-Salam, der knappe zweihundert Meter entfernt in die holperige Einfahrt abbog und sich langsam näherte. Ihr Herz machte einen freudigen Satz. Sie waren fast da.
Sie hob ihren Sohn wieder auf, setzte ihn sich auf die Hüfte und ging rasch hinunter. Von draußen hörte sie Yussufs erfreute Stimme: »Da sind sie! Schau, Ibrahim – da sind sie!«, und auf dem Weg zur Haustür wurde sie von ihrer gesamten Kinderschar überholt, die laut jubelnd ins Freie stürmte.
Sie trat auf die Veranda hinaus. Die Luft hatte einen frostigen Biss, der Himmel war grau – aber als der Bus anhielt, drang die Sonne durch die Wolken und tauchte das bejahrte Vehikel in strahlend helles Licht. Die seitliche Tür wurde geöffnet, und es war Raja, der als Erster ausstieg und zum Haus hinüberschaute. Bevor sie ihm auch nur zuwinken, geschweige denn etwas sagen konnte, schoss Yussuf bereits auf ihn zu und flog ihm in die gerade noch rechtzeitig ausgebreiteten Arme. Auf der anderen Seite kletterte Rani aus dem Bus und rannte über die winterkahle Wiese schnurstracks auf die Veranda zu, wo Moussa neben Sameera stand.
»Moussa!« Sie fiel ihrem Lieblingsbruder enthusiastisch um den Hals. »Ich hab mich so auf euch gefreut – aber wo ist denn der ganze Schnee geblieben?«
»Wir hatten noch keinen, Schätzchen«, erklärte Sameera, als Rani Moussa endlich losließ und zu ihr kam. »Aber es soll welchen geben. Ein bisschen Geduld, und du wirst sehen: Weihnachten ist alles weiß.«
Endlich stieg auch Sita aus dem Bus und war ebenso wie ihr Mann schnell von Kindern umringt, die sich über das Wiedersehen mit ihrer Maha-Sita freuten (den Namen hatte Yussuf ihr verpasst, in der Zeit, als die Kinder vorübergehend bei den Sharmas in Shivapur gewohnt hatten und Raja für sie zum Maha-Raja aufgestiegen war). Sameera wartete geduldig, bis der erste Begrüßungsjubel sich gelegt hatte und sie ihren Sohn an Ameera weitergeben konnte; dann ging sie auf ihre behn zu, die ihr mit einem strahlenden Lächeln entgegenkam.
Sie hatten wochenlang gewartet, aber nun waren die Sharmas zurückgekehrt in ihr zweites Zuhause. Jetzt konnte es Weihnachten werden.
***
Am Morgen darauf erwachte Raja Sharma wie immer bereits sehr früh. Draußen war es noch dunkel, Sita neben ihm schlief tief und fest, und auch aus dem Nebenzimmer,