Auch Gaia fühlte sich zum ersten Mal nach einem Flug richtig gut und war sogar begeistert, weil sie vor weiteren Flügen nach Svalbard keine Angst mehr haben würde. Der Hypersonic hatte durch die Ruhe an Bord ihr Vertrauen gewonnen und auch der Blick auf die Erde und den Weltraum war atemberaubend gewesen.
Leider war dieses Erlebnis durch die anstehenden Probleme und die Ungewissheit im Projekt für beide getrübt.
Als die Maschine zum Stillstand gekommen war, endete der Datenstream der Außenansicht.
Die Eyefoils meldeten jetzt
>> Willkommen in New Urumqi! <<
Der Zusatz 'New' im Namen der Stadt hatte sich bis heute gehalten, obwohl es natürlich keine Verwechslungsmöglichkeit mit dem alten Urumqi in Zentralasien mehr gab. Bei allen anderen in Antarktika neu gegründeten Städten, die in der Gründungszeit ebenfalls das Attribut 'New' trugen, ließ man dieses heute generell weg. Stattdessen sprach man in historischem Zusammenhang von den Städten der alten Welt beispielsweise vom 'alten' Paris oder dem 'alten' Tokio.
Jia, Gaia und die anderen Passagiere verließen die Maschine wieder über den Mover und gingen direkt zum Hauptgebäude. Wie immer stach das riesige Symbol von Antarktika über dem Portal ins Auge, einer zehn Meter großen Ausführung, die einem Satellitenbild ähnelte. Es stellte die Inselwelt des Kontinents in spiegelndem Silber vor einer kreisrunden hellblauen Hintergrundfläche dar. Diese wurde von dem Kreis der zweihundertsieben kleinen, zehnstrahligen Sterne umrandet, von denen jeder eine etwas andere Farbe besaß. Sie repräsentierten die ursprünglichen Nationalitäten der alten Welt, deren Nachkommen heute in Antarktika lebten.
Jia und Gaia warfen einen kurzen Blick darauf, als sie darunter hindurchgingen.
Wie sie schon beim Abflug erfahren hatten, gab es heute leider keinen direkten Flug nach Byrd Island zum Laborkomplex, weil das Wetter dort so schlecht war, dass nicht einmal ein Kopter landen konnte. Das gab es selten, denn diese kamen normalerweise auch mit Extremwetter zurecht. Sie mussten daher das Sub nehmen, weil sich die Wetterlage auch die nächsten Stunden nicht ändern würde. Grundsätzlich war das kein Problem. Die schnellen U-Boote stellten überall eine zuverlässige Verbindung zwischen den Städten an der Küste und den Inseln her, auch wenn sie natürlich deutlich länger unterwegs sein würden.
Obwohl New Urumqi als einzige Stadt Antarktikas direkt am Meer lag, gab es von hier keine direkte Sub-Verbindung nach Byrd Island, weil die Gebirgskette der antarktischen Rockies im Weg lag. Jia und Gaia mussten deswegen zunächst nach Narvik an der Pazifikküste auf der anderen Seite der Rockies weiterfliegen. Von dort aus verkehrte ein sehr schnelles Sub zwischen dem Festland und dem Byrd Island Archipel, das noch über eintausend Kilometer entfernt war. Für diese jetzt noch anstehende letzte Etappe zu ihrem eigentlichen Ziel würden sie weitere sieben Stunden benötigen.
Nach Narvik selbst war es nicht weit, nur zwanzig Minuten mit dem Kopter. Die Station wurde zu jeder vollen Stunde direkt ab dem Kopterport von New Urumqi angeflogen, der gleich auf der anderen Seite des Terminals lag.
Jia und Gaia gingen durch die langgezogene Verbindungshalle hinüber, vorbei an einem Automaten für Getränke und Snacks. Jia ließ sich einen Fastr und einen Wako geben. Dieser Energydrink war zurzeit ihr Lieblingsgetränk. Auch jetzt entschied sie sich eigentlich nur wegen des Geschmacks dafür, nicht weil sie sich müde fühlte.
Der Fastr war ein kleines ringfömiges, süßes Mürbgebäck, das im Inneren einen Kern aus süßer, dunkler Schokolade besaß. Sie liebte diese Kombination ganz besonders, nicht zuletzt weil sie auch den Appetit nahm.
Gaia nahm sich nur einen Vibi mit einer Flasche Wasser. Im Gegensatz zu Jia versuchte sie, so natürlich wie möglich zu leben und mied alle künstlich erzeugten Nahrungsmittel. Der Vibi war ein vitamin- und mineralienreicher Snack aus Seetang, der wie ein marmoriertes, kleines Baguette aussah.
Außer Gaia und Jia gingen nur wenige Passagiere an Bord des Kopters. Das war nicht überraschend, denn Narvik war eigentlich nur ein Außenposten mit einer Hafenanlage, von der aus die Subs zu den Laboren auf Byrd Island und Finistere fuhren. Der fünfhundert Kilometer lange Flug führte über die Fjorde und zwischen den noch sonnenbeschienenen Gipfeln der Drei– und Viertausender hindurch.
Jia und Gaia hatten gerade ihren Imbiss verzehrt, als der Kopter bereits wieder stark abbremste und in den Sinkflug ging. Die Kuppel von Narvik lag schon in Sichtweite. Kurz darauf schwebten sie bereits über das flache, runde Dach. Es erstreckte sich über einem flachen Ausläufer der Berge, etwa fünf Kilometer von der Küste entfernt. Dieser große Abstand schützte den Hafen vor den riesigen Wellen. Für die Subs war er vom Meer aus durch einen Unterwassertunnel erreichbar.
Während sie dem Ziel-Gate in der mittleren Kuppelregion näher kamen, konnten Jia und Gaia durch die Fenster des Kopters schon sehen, wie sich das Schleusentor dort öffnete. Der Kopter ging tiefer und flog direkt auf diese Öffnung zu. Kurz bevor sie diese erreichten, bremste er fast bis zum Stillstand ab und schwebte in einem fast senkrechten Abwärtsflug in die Schleuse hinein. Deren Inneres erschien wie eine sterile weiße Kammer. Jia und Gaia beobachteten, wie sich die obere Abdeckung sofort wieder zurückbewegte und das Kuppeldach nach außen hin verschloss.
Diese Art von Zugang zu den Kuppeln schützte das Innere und die dort befindlichen Anlagen und ermöglichte so den Koptern die Landung bei jedem Wetter.
Ein paar Sekunden später öffnete sich auch die Abdeckung unter ihnen und gab den weiteren Weg nach Innen auf den Gebäudekomplex von Narvik und dessen Hafenbereich frei. Der Kopter schwebte langsam weiter und setzte direkt am Ende des Hauptpiers auf.
Das Sub wartete bereits auf sie.
Sein Anblick steigerte bei Jia und Gaia weiter die Anspannung. Das vor ihnen liegende nächste Etappenziel, Byrd Island, rückte sichtbar näher und damit auch der Zeitpunkt, bis zu dem sie die Lösung gefunden haben mussten.
Natürlich freuten sie sich auch, Ray und Mian bald wiederzusehen.
Rückblick 16. Dezember 2047
Europa / London
Letztes Jahr waren sie gerade noch verschont geblieben. Nach dem zunehmend schnelleren Anstieg des Meeresspiegels auf momentan zweieinhalb Meter waren weltweit schon viele Küstenregionen untergegangen.
In den USA waren an der Ostküste bereits Washington D.C., Boston, Baltimore, Savannah, Charleston sowie Jacksonville in Florida direkt betroffen und kämpften gegen den Untergang. Auch am Golf von Mexiko waren schon die meisten Küstenregionen und viele Städte vom Meer überflutet, darunter New Orleans, Houston und Corpus Christi.
Italiens Lagunenstadt Venedig musste bereits vor zehn Jahren aufgegeben werden. Auch hunderte Inseln im Pazifik waren schon lange vollständig evakuiert worden.
Selbst ganze Staaten waren inzwischen Opfer der Erwärmung geworden. Holland existierte seit einigen Jahren nicht mehr. Andere große Gebiete an der Nord- und Ostseeküste waren ebenfalls vom Meer überflutet worden und in Bangladesh waren in den vergangenen Jahren Millionen Menschen auf der Flucht vor dem schnell ansteigenden Wasser ums Leben gekommen.
In dieser weltweit äußerst dramatischen Situation hatte sich im vergangenen Jahr am 21. August eine weitere Katastrophe ereignet, wie sie in Bezug auf ihre Art und Stärke von nun an immer häufiger auftreten würden.
Durch die Aufwärtsbewegung der grönländischen Landmasse aufgrund des schnellen Eisverlusts war es am Meeresgrund vor der Südspitze der riesigen Insel zu einem Erdbeben der Stärke 10,0 gekommen, das einen verheerenden Tsunami ausgelöst hatte. Diese Flutwelle hatte sich über dem gesamten Nordatlantik und nach Süden sogar bis über den Äquator hinaus ausgebreitet. Große Teile der Städte an den betroffenen Küsten wurden verwüstet. Islands Hauptstadt Reykjavik, nur eintausenddreihundert Kilometer vom Epizentrum entfernt, war vollständig zerstört worden. Obwohl sich die Welle auf ihrem Weg an Neufundland vorbei nach Süden etwas abgeschwächt hatte, wurden an der nordamerikanischen Ostküste auch Portland in Maine, Boston