Danach verblasste das Gesicht von Theresa Vanhouven hinter seiner Stirn, und er ging zu dem Treffen mit der Chefin.
So tat er auch an diesem entscheidenden Tag genau das, was er immer getan hatte - er vergab seine Chance, sein mieses Leben zu ändern.
Das Seniorenheim lag in Greenwich Village am St. Lukes Place, und Barry musste zunächst noch vor dem Büro der Chefin warten. Gegen halb elf holte ihn die Sekretärin herein.
Durch das Vorzimmer hindurch folgte Barry dem Girl und verfluchte den Tag vor drei Jahren, an dem er zum ersten Mal durch die schwere Doppeltür gegangen war, die sie nun erreichten.
»Mr. O’Connors ist da, Mrs. Goldberg«, sagte die Sekretärin in das Büro hinein, ließ Barry an sich Vorbeigehen und schloss die Tür hinter ihm.
Das Büro war recht eigenwillig eingerichtet, Regale, Schränkchen, Schreibtisch und Sitzmöbel aus Bambus und Korb. Räucherstäbchen auf einem niedrigen Tischchen vor der Sitzgruppe, Stickereien und Kupferstiche an den Wänden mit Vogelmotiven, Pagoden und seltsam ineinander verschränkte Liebespaare jedes Mal, wenn er hier war, fragte sich Barry, wie man es, um alles in der Welt, auf solch umständliche Weise treiben konnte, ohne Akrobat zu sein.
Eine unüberschaubare Anzahl von Krimskrams stand in den Regalen, auf den Fensterbrettern und auf dem Schreibtisch:Vasen, Wandteller, Figuren und kleine Schmuckkästen, alles asiatischer Herkunft.
Barry fühlte sich immer ein wenig an Howards voll gestopften Laden erinnert. Er wusste von Marilyn, dass die Chefin in Japan geboren worden war. Ihr Vater hatte einen Job in Tokio bei der US-Botschaft.
»Schön, dass du gekommen bist, mein Junge«, sagte die Chefin mit ihrer rauchigen Stimme.
Ein kalter Schauer lief Barry den Rücken hinunter. Sie trug ein merkwürdiges Kleid - lang und weit, dunkelrot und mit verschnörkelten Ornamenten bestickt. Dass man ein solches Stück Kimono nannte, hatte Barry niemand erzählt.
»Einen Tee?«
Barry nickte automatisch, und sie schenkte ihm ein.
Ihr tief schwarzes Haar hatte sie im Nacken zu einem gewaltigen Knäuel verknotet.
Ihr großer, schmallippiger Mund lächelte fast ständig, und darunter funkelten zwei grüne Augen, die Barry an eine Katze denken ließen. Man wusste nie, was sich hinter diesen Augen abspielte.
Er fühlte sich immer angespannt in ihrer Nähe. Und so viel er wusste, ging es Howard genauso. Sogar Marilyn, das abgebrühteste Luder, das Barry je im Bett gehabt hatte oder eigentlich hatte sie ihn im Bett gehabt - sogar Marilyn hatte mal zugegeben, dass die Gegenwart der Chefin sie nervös machte.
»Du brauchst einen Tapetenwechsel, mein Junge«, sagte die Chefin, während sie ihm den Tee einschenkte. »Dieser Fall ist nichts für deine Nerven.«
Howard, dieses Schwein - er hatte geplaudert!
»Ich werf dir nichts vor. Jeder wird mal schwach. Wir sind auch nur Menschen.« Sie zog einige Papiere aus einer schwarzen Klarsichthülle. »Nur in unserem Geschäft darf man sich das nicht allzu oft erlauben.« Sie schob ihm einen Briefbogen zu. »Hier, unterschreib das, mein Junge.«
Barry überflog den Text auf dem Blatt. »Kündigung?«
»Ja. Es muss ja alles seine Ordnung haben.« Sie legte drei zusammengeheftete Blätter vor ihn hin. »Und dann unterschreibst du das hier. Arbeitsvertrag, las Barry, und Los Angeles. Er sah sie fragend an.
»In L.A. hab ich vor kurzem ein Seniorenstift eröffnet. Ähnliches Konzept wie hier - Ärzte, Professoren und so weiter. Du wirst dort zu Jahresbeginn als Pfleger anfangen.«
»Und bis dahin?«
»Machst du eine Entziehungskur.« Sie verzog ihren Mund zu einem fast mütterlichen Lächeln. »Mein lieber Junge, du weißt doch, dass ich nur Leute brauchen kann, auf die absoluter Verlass ist.«
Ihre Augen funkelten. Diesmal sah Barry, was in den Tiefen dahinter bereits feststand: Dass seine nächste Kündigung nicht aus Papier sein würde. Sondern aus dünnem Draht, oder aus Eisen.
Seine Nackenhaare richteten sich auf. Er unterschrieb beide Dokumente.
»Wenn du dich stabilisiert hast, steigst du wieder in das eigentliche Geschäft ein.« Sie lächelte ihn wieder an und öffnete eine andere Schublade. »Du fliegst noch heute Abend. Hier ist dein Ticket.«
Schweigend nahm er das Flugticket entgegen. Schweigend ließ er sich von ihr zur Tür bringen.
»Hol noch deine Papiere im Personalbüro ab. Ich verlasse mich auf dich, Barry.«
Als er draußen war, griff sie nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer des Freizeitmanagers ihres Seniorenstiftes.
»Massino?«, meldete sich der Mann.
»Barry O’Connors wird in zehn Minuten das Haus verlassen. Häng dich an ihn. Ich will über jeden seiner Schritte informiert werden. Bis er im Flugzeug sitzt. Über jeden Schritt, verstehst du? Nimm dir Sam als Verstärkung mit.«
19
Wenn ich behaupten würde, die Stimmung wäre gedrückt gewesen, wäre das eine maßlose Untertreibung - sie war so tief im Keller, dass wirklich nichts mehr zu retten war.
Da hatten wir uns eine Nacht um die Ohren geschlagen, und es war weiter nichts dabei herausgekommen, als dass wir uns einen Koffer voller Dollars hatten abnehmen lassen.
Wir versteckten uns hinter unseren Kaffeetassen oder taten so, als würden wir konzentriert in irgendwelchen Protokollen lesen.
Milo als Einsatzleiter gab den Bericht. Unser Chef stand mit dem Rücken zu uns am Fenster und wippte auf den Zehenspitzen auf und ab.
»Wir haben sofort eine Großfahndung eingeleitet, leider ohne Erfolg.« Milo sprach wesentlich leiser als sonst.
Der Chef schwieg lange. Und wippte auf den Zehenspitzen. Das ging etwa zwei Minuten so.
Die Spannung im Raum war mit Händen zu greifen, und sogar Medina griff nach dem Knoten seines Edelschlipses, um ihn zu lockern. Das war für ihn, den verhinderten Dressman, ziemlich ungewöhnlich. Wenn sich Milo in dem Moment die Schuhe ausgezogen hätte, wäre das um keinen Deut erstaunlicher gewesen.
Endlich drehte sich Mr. McKee um, und er trat langsam an seinen Schreibtisch. »Schade«, sagte er. Schade - sonst nichts.
Ein Aufatmen ging durch die ganze Gruppe.
Der Chef setzte sich, faltete die schmalen Hände vor sich auf dem Schreibtisch und betrachtete uns. »Was gibt es Neues aus Amsterdam? Und was haben Sie über den Taxifahrer herausgefunden?«
Es war wieder Milo, der eingestehen musste, dass die Untersuchungen in Amsterdam noch nichts ergeben hatten, nicht mal den kleinsten Hinweis. Dafür hatten wir endlich etwas Konkretes, was den Taxifahrer anging.
»Von den 26 Namen aus unserer Datenbank konnten wir vier Männer herausfiltern, auf die Phantombild und Beschreibung passen«, berichtete Kate. Sie hatte die ganze Nacht in der Zentrale gearbeitet. »Zwei der Männer haben hieb und stichfeste Alibis - einer sitzt in San Francisco, der andere auf Rikers Island. Beide wegen Totschlags. Der dritte liegt mit einer Gelbsucht in einer Klinik in Houston. Das Bild des letzten habe ich heute Morgen Mr. Vanhouven und dem Chauffeur vorgelegt. Vanhouven ist sich nicht sicher, aber der Chauffeure schwört Stein und Bein, dass dies unser Mann ist.«
Sie reichte ein Foto herum. Das Gesicht des Chefs entspannte sich merklich. Milo konnte seinen bewundernden Blick gar nicht mehr losreißen von Kate.
»Barry O’Connors«, las sie aus ihren Unterlagen vor, »27 Jahre alt, in Brooklyn geboren, später in die Bronx gezogen, dort kriegte er seinen ersten Jungendarrest aufgebrummt. Er hat als 15jähriger seinem Mathelehrer mehrere Rippen und das Nasenbein gebrochen. Karriere