Nach etwa 20 Minuten wieder Vanhouvens Handy und die verzerrte Stimme. »Stehst du am Pfeiler?«
»Ja.«
»Jetzt geh genau hundert Schritte in Richtung Brooklyn. Zähl mit.«
»Einsatzleitung an Pfeilerposten«, funkte Milo. »Irgendwo ein Boot in Sicht?«
Unsere Leute unter der Brücke verneinten.
»Einsatzleitung an Brückenposten. Verdächtige Personen? Fahrräder, Rollstühle oder ähnliches?«
»Nicht mal ein Hund«, gab Medina zurück.
Ich wurde unruhig und suchte den Fluss mit dem Nachtglas ab. Wie, zum Teufel, wollten die Kidnapper den Geldkoffer an sich bringen?
Langsam dämmerte mir, dass wir irgendeine Kleinigkeit übersehen hatten.
»Verdammt!«, entfuhr es mir.
»Was ist los, Jesse?«, wollte Milo wissen.
Ich kam nicht mehr dazu, ihm zu sagen, dass es mir wie Schuppen von den Augen gefallen war, wozu das Geld eingeschweißt werden musste, denn die verzerrte Stimme meldete sich wieder.
»Stehen bleiben.«
»Wir brauchen Taucher!«, schrie ich, während die Stimme sagte: »Wirf den Koffer in den Fluss, soweit du kannst, los!«
In Windeseile seilte ich mich ab, und als ich die Straße erreichte, kreischten Bremsen, ein Hupkonzert brach los, der Verkehr kam zum Erliegen.
Die Manhattaner Seite war eine ganze Ecke entfernt. Ich spurtete los. Keuchend erreichte ich nach etwa zwei Minuten Vanhouven.
Er stand teilnahmslos neben Medina. Der suchte die Wasseroberfläche mit seinem Nachtglas ab.
»Mist!«, murmelte er. »Luftblasen. Der Koffer ist weg.«
Warum, um alles in der Welt, hat keiner an Taucher gedacht?, schimpfte ich in Gedanken. Ich sprach es aber nicht aus, weil Vanhouven dabeistand.
»Es ist vielleicht besser so«, sagte der Mann mit monotoner Stimme und als hätte er meine Gedanken erraten. »Wer weiß, was sie meiner Frau angetan hätten.«
16
Barry hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Mit dem halb vollen Whiskyglas in der Hand lag er auf der Couch und rauchte eine nach der anderen.
Er starrte die Badezimmertür an und wünschte sich, der Security Mann, dem er vor knapp einem Jahr den Schädel eingeschlagen hatte, weil der ihn im Garten einer Villa in Brooklyn erwischt hatte, wäre damals schneller mit seinem Revolver gewesen.
Solche Gedanken waren Barry bisher fremd gewesen. Das wüste Durcheinander in seinem Whisky Schädel machte ihn fix und fertig. Er hatte seinen Job bei der Chefin bisher immer perfekt erledigt.
Ihm fiel der heikle Auftrag ein, mit dem er sich vor etwas mehr als zwei Jahren die ersten Lorbeeren verdient hatte. In dem Auto, dessen Bremsschläuche er damals an einer Raststätte gelöst hatte, hatte außer der Frau, um die es gegangen war, noch ein Kind gesessen. Der Truck, unter den sie eine halbe Stunde später gerast waren, hatte beide platt gemacht. Nicht einen Gedanken hatte Barry hinterher an die beiden verschwendet. Auch nicht an das Kind.
Aber die blonde Lady da hinter der Badezimmertür hatte ihn vollkommen aus den Angeln gehoben. Ständig kreisten seine Gedanken um sie.
Die Lösegeldübergabe lief in diesen Minuten, und es war nur noch eine Frage von Stunden, bis er und Howard tun würden, was getan werden musste.
Aber die Frau hinter dieser verdammten Tür war doch okay, oder? Sie war sogar mehr als okay. Sie war...
Barry gab es auf, nach dem Wort zu suchen, das auf sie passte. Niemand hatte es ihm beigebracht. Und wenn, hatte er es vergessen.
»Scheiße...« Er kippte den Whisky herunter und wusste genau, dass er es nicht bringen würde. Diesmal nicht.
»Verfluchte Scheiße!«, flüsterte er und schwang sich von der Couch.
Er schlich zur Badezimmertür und öffnete sie behutsam. Dabei knipste er das Licht im Zimmer hinter sich an. Die Frau lag in Mantel und Decke gehüllt auf der Seite.
Er lauschte ihren gleichmäßigen Atemzügen und betrachtete ihr Gesicht. Die Frau war doch okay, verdammt sie war... »Was weiß denn ich«, flüsterte Barry.
Und plötzlich fiel ihm seine Mutter ein.
Ja, verdammt, sie hatte was von seiner Mutter!
Sein Mund fühlte sich plötzlich trocken an, und er schluckte. Etwas flatterte heiß in seinem Brustkorb herum und sackte bis in seine Kniekehlen.
Reiß dich zusammen, dachte er und zog leise die Tür zu. Ich bring’s diesmal nicht, verflucht ich bring’s nicht!
Er verließ die Wohnung und stieg leise die Treppe hinunter in Howards Laden. Hier war es stockdunkel, und vor dem Schaufenster fuhr kein einziger Wagen vorbei.
Barry tastete sich durch den ganzen alten Kram hindurch bis an Howards Bürotür. Unten am Türspalt sah er Licht. Er trat ein.
Howard saß an seinem Schreibtisch. Sein PC war eingeschaltet, und neben dem überdimensionalen Kaffeebecher lag sein Handy.
Er musterte den Jüngeren kurz und senkte dann den Blick. »Die Sache ist gelaufen. Unser Mann ist im East River Park an Land gegangen. Heute Abend können wir die Show hier abstellen.«
Barry sagte nichts. Er angelte eine Tasse aus dem Chaos auf Howards Spüle, schwenkte sie aus und schenkte sich Kaffee ein.
Er lehnte sich gegen die Spüle und schlürfte seinen Kaffee. Schweigend sah er den Kahlkopf an.
Nach etwa 20 Minuten hörten sie Schritte im Laden. Die Tür zum Büro wurde aufgerissen, und Marilyn kam herein.
Grußlos schnappte auch sie sich eine Tasse und ging zur Kaffeemaschine.
»Was willst denn du hier?«, fragte Barry. Marilyns Part in dieser Angelegenheit war eigentlich erledigt.
»Dich ablösen«, sagte Marilyn ohne ihn anzusehen.
»Spinnst du?«
»Die Chefin will dich sprechen.«
»Wieso?«
»Frag sie selbst. Sie erwartet dich um zehn im Seniorenheim.«
Marilyn strich sich nervös über ihr schwarzes Haar. Immer noch vermied sie es, den Rotschopf anzuschauen.
Barrys Augen wurden schmal. Er sah zu Howard. Der hatte ihm den Rücken zugewandt und lud irgendein Spiel auf seinen PC. Er tat, als würde ihn das alles nichts angehen.
Barry wusste Bescheid.
Er knallte seine Tasse auf die Spüle und verließ das Büro.
Oben in der Wohnung griff er sich seine Jacke, doch schon wieder an der Tür, wandte er sich noch einmal um und ging auf leisen Sohlen zum Badezimmer. Er lauschte nach ihren Atemzügen.
»Barry?«, hörte er sie hinter der Tür sagen.
Vorsichtig öffnete er und schaltete das Licht ein.
Sie schaute auf seine Jacke. »Gehen Sie weg?«
Er glaubte, etwas wie Furcht in ihren Augen zu sehen.
»Nur ein wenig an die frische Luft«, log er.
»Hat mein Mann...?«
Barry nickte und versuchte ein Grinsen auf sein Gesicht zu zwingen. »Er hat bezahlt.«
Er spürte förmlich, wie sie den Atem anhielt.
»Und... lassen Sie mich jetzt frei?«
»Morgen