Er half ihr, den Mantel anzuziehen. In dem kleinen Topf neben ihr klebten Reste von Haferbrei. Außer Eiern und Kartoffeln so ziemlich das Einzige, was Barry kochen konnte.
Er nahm ihn auf und wollte das Bad verlassen.
»Warten Sie«, sagte die Frau.
Der Rotschopf drehte sich langsam nach ihr um.
»Wollen Sie mir nicht Ihren Namen verraten?«, fragte sie.
Er schluckte.
»Barry«, sagte er schließlich, und sofort stand die Chefin auf seiner inneren Bühne. Ihre grünen Augen bohrten sich strafend in sein Gedärm. »Nennen Sie mich bloß nicht bei meinem Namen, wenn die anderen dabei sind!«, entfuhr es ihm.
»Abgemacht.« Die Frau musterte ihn aufmerksam, und Barry wurde es plötzlich warm ums Herz. »Danke, Barry. Danke für den Mantel.«
Er nickte.
»Du trägst ein Kreuz?«
Wieder das Nicken.
»Glaubst du daran?«
Etwas Dunkles, Weiches, für das Barry keinen Namen hatte, stieg ihm aus dem Brustkorb in den Hals und schwoll dort zu einem Kloß. Er schluckte ihn hinunter.
»Hat meine Mutter mir geschenkt. War Katholikin.«
Er zog hastig die Tür auf.
»Hast du kein schlechtes Gewissen, Barry?«, rief sie ihm nach.
Ohne zu antworten, warf er die Tür ins Schloss. Er nahm das Glas und die Whiskyflasche vom Tisch. Mit diesen beiden Kumpels - den besten, die Barry hatte - stand er danach zwei geschlagene Stunden am Fenster, versuchte den Kloß im Hals wegzuspülen und den stechenden Blick der Chefin in seinem Bauch zu betäuben.
In dieser Nacht träumte Barry seit Langem wieder von seiner Mutter. Den gleichen Traum, der ihn seit seiner Kindheit schon so oft aus dem Schlaf gerissen hatte: Seine Mutter blass, mit fiebrigen Augen in schmutzige Laken gehüllt, in dem schmutzigen Bett, in der schmutzigen Wohnung in Brooklyn. Und wieder reichte sie ihm das Kreuz, und wieder streichelte sie ihm über das Haar.
Doch diesmal träumte Barry nicht, wie sein besoffener Vater ihn, den Sechsjährigen, vom Bett wegreißt, um ihn mitzunehmen in die Süd Bronx, wo dann Barrys Kindheit von einem Tag auf den anderen zu Ende war und seine Ausbildung auf der Straße begann.
Nein, diesmal kroch er im Traum zu seiner Mutter unter das schmutzige Laken und wurde mit ihr in der Holzkiste aus der schmutzigen Wohnung getragen.
Als er schweißgebadet aus dem Traum hochfuhr, stand Howard im Türrahmen. »Amsterdam hat angerufen. Vanhouven will ein Lebenszeichen von seiner Alten.«
9
»Sie haben uns doch dieses Puppenzimmer Ihrer Frau gezeigt.«
»Ja«, sagte Vanhouven und nickte. »Sie meinen...?«
Ich schlürfte den Kaffee, den Nancy, das Hausmädchen der Vanhouvens, vor uns hingestellt hatte. Ihre Augen waren rot geweint.
»Wir brauchen etwas, über das nur Ihre Frau Auskunft geben kann. Die Kidnapper sollen uns sagen, wie viele Puppen Ihre Frau besitzt«, schlug ich vor.
»Das weiß sie doch selbst nicht.«
Vanhouven war skeptisch.
Auf der Ledercouch, in der Konferenzecke des Büros, saßen stumm und blass die beiden Söhne der Familie. Sie rauchten eine Zigarette nach der anderen.
»Haben die Puppen eigentlich Namen?« Die Frage kam von Kate. Sie hatte uns aus dem Bett geklingelt, nachdem die Entführer aus Amsterdam angerufen hatten. Eine Millionen Dollar wollten sie. Vanhouven hatte ein Lebenszeichen gefordert.
»Ihre Lieblingspuppe heißt >Prinzessin<«, meldete sich das Hausmädchen zu Wort. »Das weiß niemand außer uns.«
»Gut«, sagte Vanhouven.
Wir warteten die vereinbarten fünf Minuten ab. Hinter der Glasfront im Garten der Vanhouvens war es noch stockdunkel. Kurz nach halb vier zeigte meine Armbanduhr.
Milo saß vor der Mahagonikommode, auf der unsere Ingenieure das technische Gerät aufgebaut hatten. Er telefonierte mit den Kollegen in Amsterdam. Zwei Interpol-Agenten aus dem Bonner Büro waren in die niederländische Metropole geflogen und versuchten in Zusammenarbeit mit der Amsterdamer Kripo, den Anrufer zu lokalisieren.
Endlich, das Telefon - Vanhouven nahm ab.
»Und? Was für ein Lebenszeichen wollen Sie?« Die Männerstimme klang verzerrt, aber der holländische Akzent war nicht zu überhören.
»Den Namen der Lieblingspuppe meiner Frau.«
Der Mann kündigte seinen nächsten Anruf in zehn Minuten an und unterbrach die Verbindung.
Es wurden fast 15 Minuten daraus. Alle Blicke hingen gebannt auf Vanhouvens Gesicht, als er dann wieder den Hörer abnahm. Das Hausmädchen presste ihre Fäuste auf den Mund, und die beiden Jungens waren aufgestanden.
»Es ist eine antiquarische Puppe aus Irland. Sie heißt Prinzessin«, sagte der Mann.
Ein Aufatmen ging durch den Raum. Das Zwillingspaar ließ sich auf die Couch fallen und griff fast synchron zu der silbernen Zigarettentruhe auf dem Konferenztisch.
»Und jetzt die Modalitäten für die Übergabe des Lösegelds«, schnarrte die Stimme des Anrufers.
In dem Moment gab Milo durch ein heftiges Kopfnicken zu verstehen, dass man in Amsterdam dem Anrufer auf der Spur war.
Halten Sie ihn hin!, kritzelte ich hastig auf einen Zettel und schob ihn zu Vanhouven über den Schreibtisch. Aus den Augenwinkeln sah ich die Boys auf der Ledercouch miteinander tuscheln.
»Die Nummer Ihres Handys«, forderte der Anrufer.
Vanhouven gab sie durch.
»Sie schweißen das Geld in eine Plastikfolie ein und legen es in einen Aluminiumkoffer. Morgen um die gleiche Zeit gehen Sie damit auf die Brooklyn Bridge. Dort warten Sie auf weitere Anweisungen. Das Handy nicht vergessen.« Die Verbindung brach ab.
»Sir, hier ist was oberfaul!« Die beiden Jungens standen plötzlich hinter mir. »Der Name der Puppe ist zwar okay, aber sie ist nicht antiquarisch, und schon gar nicht stammt sie aus Irland!«
Ich schaute den Vater an. Sein breites quadratisches Gesicht wirkte wie aus weißem Marmor gemeißelt. Er nickte zustimmend.
»Die Puppe gehörte Hjördis, unserer Tochter. Wir haben sie ihr in einem Kaufhaus in Brooklyn gekauft. Zu ihrem vierten Geburtstag.«
»Hjördis ist ein Jahr vor unserer Geburt an Leukämie gestorben«, sagte einer der Boys.
Milo und ich sahen uns an. Hinter der Stirn meines Partners schien es auf Hochtouren zu arbeiten.
Kate stand auf. »Mr. Vanhouven, sagten Sie nicht, der Taxifahrer habe rotes Haar gehabt?«
»Und Wash hat mir erzählt, der Junge sei ein Ire gewesen!«, ereiferte sich das Hausmädchen.
Ich lehnte mich zurück. Die Kodierung des Lebenszeichens nötigte mir Respekt ab. Vanhouvens Frau schien schwer auf Draht zu sein.
»Und was will uns Ihre Mutter mit dem Stichwort antiquarisch mitteilen?«
10
Man sah es Silvester Cord nicht unbedingt an, dass er im Grunde seines Herzen ein langweiliger Spießer war, dessen Gedanken sich seit Jahren um nichts anderes drehten als um seine Wertpapiere und Bankkonten, seinen Arbeitsplatz an der Wallstreet und seine Urlaubsinseln in der Südsee. Abgesehen natürlich von den Nachtclubs in Lower Manhattan und den Mädchen darin.
Kein