5
Milo wirkte, als hätte er zehn Stunden am Stück durchgeschlafen. Dass das nicht der Fall sein konnte, lag auf der Hand: Bevor er an diesem Dienstagmorgen zu mir ins Auto stieg, winkte er zu seinem Fenster hoch, von dem aus eine junge Dame zurückwinkte Kate, der neue Stern am Himmel unseres FBI Distriktes.
»Hat sie frei heute?«, fragte ich vorsichtig.
Er bestätigte und schwärmte mir dann so wortreich von der Lady vor, dass ich erst wieder zu Wort kam, als wir die Tiefgarage am Federal Plaza erreichten. Offenbar war er total verliebt. Seine Euphorie schien mir fast ein bisschen übertrieben.
Aber ich beruhigte mich, indem ich mir in Erinnerung rief, dass ich die Welt und gewisse Frauen darauf ähnlich lobenswert zu finden pflegte, wenn Amor mich von Zeit zu Zeit erwischte. Beruhigend daran war vor allem die Erfahrung, dass sich solch exotische Zustände nach ein paar Tagen oder Wochen wieder legten. .
Als wir dann allerdings vor dem Büro unseres Chefs Mandy begegneten, trat Milo vor lauter rosa Laune in ein gewaltiges Fettnäpfchen. »Guten Morgen, Mandy!«, tönte er strahlend. Und dann: »Ein neues Kleid! Steht Ihnen wahnsinnig gut!«
Mandy trug das dunkelgrüne Midikleid mit dem angedeuteten Schlitz auf der linken Seite und dem eigenartigen Glanz, der ihm etwas Kunststoff artiges verlieh. Sie hatte es vor zwei Jahren zum ersten Mal an, als unser Chef sein - ich weiß nicht wievieltes - Dienstjubiläum feierte.
Ich hatte das Kleid deswegen nie vergessen, weil es mich schon damals an eine Tante erinnerte, die sich gerne in ähnlich grünen Stoff hüllte und die immer fromme Lieder mit mir singen wollte, wenn sie zu Besuch kam. Ich hatte von einer Kollegin erfahren, dass irgendein verflossener Lover, den Mandy nicht vergessen konnte, ihr dieses Kleid geschenkt hatte. Anders war auch wirklich nicht zu erklären, dass sie sich nicht von dem grünen Ding trennen wollte.
Jedenfalls errötete sie leicht, deutete ein Nicken an, und verschwand im Vorzimmer.
Milo sah mich fragend an. Die Chance, ihn auf den Teppich zu bringen, schien mir günstig, und ich erzählte ihm, was ich über das Kleid wusste. Danach war mein Partner wesentlich ruhiger.
Die anderen liefen nach und nach ein, und wir versammelten uns im Büro von Mr. McKee.
Der Chef hörte sich unseren Bericht mit unverhohlener Befriedigung an. »Gute Arbeit, Gentlemen, gratuliere!«
Mandy kam mit einer Kanne Kaffee herein. Ich registrierte erleichtert, dass sie Milos Tasse genauso voll einschenkte wie unsere. Er bedankte sich mit ausgesuchter Höflichkeit und warf mir einen verstohlenen Blick zu. Glücklicherweise hatte ich das Grinsen unterdrückt, das sich auf mein Gesicht drängen wollte.
Unser Chef verteilte indessen neue Aufgaben: Jay und Leslie bekamen den Auftrag, den abgeschlossenen Fall aufzuarbeiten Verhöre, Verhörprotokolle, die Berichte für die Presse, die Dokumentation für die Staatsanwaltschaft und so weiter und so fort. Jays Pokerface zeigte keine Rührung. Leslie lächelte säuerlich.
So glücklich ich darüber war, dass wir die Geldfälscher und ihre Geschäftspartner geschnappt hatten, so inbrünstig gratulierte ich mir jetzt, nicht die Leitung des Einsatzes gehabt zu haben. Der anschließende Papierkram war einfach ätzend.
»Und dann habe ich hier eine Routinesache hereinbekommen«, sagte Mr. McKee, »ein New Yorker, der in seinem Wochenendhaus auf Long Island von einer Klapperschlange gebissen wurde. Er starb Anfang letzter Woche.« Er schob ein paar zusammengeheftete Blätter Medina und Clive zu. »Vielleicht etwas für sie. Zur Entspannung«, fügte er mit einem Schmunzeln hinzu.
»Bundesbeamter?«, fragte Clive.
Der Chef nickte. »Daniel Kent. Verwaltungschef bei der Finanzbehörde. Die Detektive der Versicherungsgesellschaft, bei der er seine Lebensversicherung abgeschlossen hatte, wollen Spuren im Garten des Grundstücks entdeckt haben und konstruieren ein Mordkomplott daraus. Die Juristen der Gesellschaft haben einen Strafantrag gestellt, und weil er Bundesbeamter war, wäre das dann unser Fall. Schauen Sie mal, was da dran ist.«
Während Clive und Medina die Papiere überflogen, wandte sich Mr. McKee an Milo und mich. In dem Augenblick klingelte sein Telefon.
Er nahm ab. Aus den wenigen Sätzen, die er sagte, entnahmen wir, dass er mit der City Police telefonierte. Während er seinem Gesprächspartner zuhörte, machte er sich Notizen.
»Gut«, sagte er schließlich, »schicken Sie mir die bisherigen Ermittlungsergebnisse über E-Mail in unsere Zentrale.«
Er legte auf und sah Milo und mich an.
»Eine Entführung. Die betroffene Familie wohnt auf der East Side. Vanhouven.« Nachdenklich rieb er sich das Kinn. »Der Mann macht Geschäfte mit Kaffee und Tee. Ich glaub, ich hab neulich mal in der Zeitung von ihm gelesen. Muss mit dem Bürgermeister bekannt sein. Am besten, Sie holen sich die Informationen von der City Police aus dem Computer und fahren dann gleich mal vorbei.«
»In Ordnung, Sir.« Milo nahm den Notizzettel entgegen. Die anderen sahen uns so an, als würden sie gern mit uns tauschen.
6
Es war dunkel.Theresa versuchte sich aufzurichten. Sie stieß mit dem Kopf gegen etwas Hartes, Kantiges - die Rippe einer Heizung.
Ihre Oberarme schmerzten. Ihre Finger kribbelten, und ihr allmählich aufklärendes Bewusstsein registrierte, dass ihre Hände knapp über ihrem Kopf aneinandergebunden waren.
Sie versuchte sie herabzuziehen, um sich aufstützen und vom schmerzenden Rücken auf die Seite drehen zu können. Aber die Hände gehorchten nicht.
Gefesselt, lallte eine ungeheuer müde Stimme in ihrem Kopf.
Theresa glaubte ihr nicht und zerrte jetzt kräftiger an dem Widerstand, der ihre Hände festhielt.
Ein metallisches Knirschen erklang von einer Stelle, die ziemlich weit über ihr liegen musste.
Sie gab auf und versuchte ihren Körper ohne Zuhilfenahme der Hände auf die Seite zu drehen. Sie brauchte solange dafür, wie sonst für den Weg vom Puppenzimmer zur Hofeinfahrt. Jedenfalls kam es ihr so vor.
Als Nächstes registrierte sie, dass sie lediglich ihren Unterrock über BH, Slip und Strumpfhose trug.
Der stechende Schmerz in ihren Handgelenken vertrieb die letzten Dunstschleier aus ihrem Bewusstsein. Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf: Eisgraue Augen, der bräunliche Himmel eines PKW, ein Mann mit Glatze, der rothaarige Taxifahrer, stinkende Feuchtigkeit über ihrem Gesicht...
Die einzelnen Teile fügten sich träge zu einem Bild zusammen, das einen Sinn ergeben hätte, wenn Theresa sich nicht geweigert hätte, dieses Bild für die Wirklichkeit zu halten.
Wie eine Katze, die von einem Collie gejagt wird, flüchtete Theresas Verstand für einige Minuten lang in alle möglichen Schlupfwinkel, um diesem Bild zu entkommen.
Es ist ein Film, lieber Gott, es ist ein Film, den ich mal gesehen habe... oder ein böser Traum genau: Ein böser Traum! Gleich werde ich aufwachen. Jesus, lass mich endlich aufwachen... okay, okay, so was passiert auch außerhalb von Träumen und Filmen... Leuten, die man in Talkshows sieht, denen passiert so etwas. Leuten, von denen man in der Zeitung liest... aber doch nicht mir, lieber Gott, doch nicht mir...
Als sie endlich vor dem Bild kapitulierte, brach sie in Tränen aus. Sie weinte leise vor sich hin, immer wieder laut aufschluchzend.
Ich bin entführt worden, o Gott, warum hast du das nicht verhindert? Bin ich wirklich entführt worden...?
Sie wusste hinterher nicht mehr, wie lange sie so gelegen hatte weinend und zitternd. Theresa hatte jedes Zeitgefühl verloren. Durch den chaotischen Wirrwarr ihrer Gedanken hindurch drang sie irgendwann zu der Erinnerung an ihren Großvater vor. Alles ist möglich,