„Gab es keine anderen Gäste?“, fragte ich.
Captain Bellmore schüttelte den Kopf.
„Nein. Zumindest haben wir niemanden gefunden. Aber von einem Nachbarn haben wir erfahren, dass Tom Santini diesen Coffee Shop ab und zu für sich alleine mietete, wenn er sich mit Geschäftspartnern ungestört treffen wollte. Dann musste der Rest der Kundschaft draußen bleiben.“
Der Road Killer schien seine mörderische Mission noch nicht beendet zu haben. Offenbar hatte er es darauf abgesehen, die führenden Leute des New Yorker Heroinhandels zu dezimieren.
Das sprach für die Variante, nach der tatsächlich die Philadelphia-Connection oder irgendein anderes auswärtiges Syndikat den Road Killer ausgesandt hatte, um auf brutale Weise eine Art Marktbereinigung im Drogengeschäft zu betreiben.
Allerdings war das Vorgehen insgesamt sehr untypisch.
Marktübernahmen durch fremde Syndikate begannen üblicherweise damit, dass der Markt durch billigen Stoff überschwemmt wurde. Aber davon hatten wir nirgends etwas gehört.
Ich schweifte mit meinen Gedanken etwas ab, während jetzt der Einsatzleiter des Fire Service zu uns stieß und bereitwillig Fragen beantwortete.
Orry schien dieses Gespräch, in dem es um die Art der Explosion und Hinweise auf den verwendeten Sprengstoff ging, plötzlich ebenso wenig zu interessieren wie mich. Der Blick unseres indianischen Kollegen wurde durch ein Mercedes Cabriolet auf der anderen Straßenseite gefesselt. Ein Mann mit kantigem Gesicht und großer Sonnenbrille saß am Steuer und schien den Einsatz rund um den Coffee Shop genauestens zu beobachten.
„Das gibt’s doch nicht, Jesse!“, murmelte er.
„Wovon sprichst du?“, fragte ich.
„Der Kerl war auch am Jefferson Park, nachdem Murray Zarranoga umgebracht worden war. Er stand mit seinem Mercedes am Straßenrand und beobachtete, was sich so abspielte.“ Orry wandte den Blick in meine Richtung. „An Zufälle dieser Art glaube ich einfach nicht.“
Orry machte zwei Schritte nach vorn.
„Was hast du vor?“, wollte ich wissen.
„Den Kerl überprüfen!“
Ich folgte Orry über die Straße. Der Mercedesfahrer sah uns etwas irritiert an. Orry hielt ihm seinen Ausweis entgegen. „Spezial Agent Medina, FBI, dies ist mein Kollege Agent Trevellian. Bitte steigen Sie aus!“
„Habe ich irgendetwas getan, was nicht den Gesetzen entsprach?“, fragte der Mann.
„Steigen Sie bitte aus, wir haben ein paar Fragen an Sie!“
„Sie sind vielleicht ein wichtiger Zeuge“, versuchte ich Zeerys ziemlich barsch vorgetragene Anweisung etwas abzumildern.
Der Mercedes-Fahrer stieg aus.
„Ihren Führerschein, bitte!“, verlangte Orry.
„Ich habe keine einzige Verkehrsregel übertreten!“, ereiferte sich der Mann. „Also weiß ich nicht, was das Ganze soll! Und wenn Sie mir vorwerfen, dass ich hier parke, dann muss ich Ihnen entgegenhalten, dass sich der Verkehr hier vorhin dermaßen gestaut hat, dass…“
„Das bedeutet, Sie waren bereits vor der Polizei und den Einsatzfahrzeugen des Fire Service hier“, stellte ich fest.
Er langte in die Innentasche seines Jacketts und reichte Orry seinen Führerschein.
Mein Kollege reichte ihn an mich weiter.
Er war auf den Namen Erroll Reigate ausgestellt und schien echt zu sein. Ich gab Reigate das Dokument zurück.
„Wie kommt es, dass Sie am Jefferson Park und jetzt hier jeweils pünktlich zur Stelle sind, wenn ein Anschlag verübt wird?“, fragte Orry.
„Das ist reiner Zufall“, erwiderte Reigate. „Oder vielleicht auch nicht. Wir leben in einer sehr gewalttätigen Zeit. Da finde ich es nicht so unwahrscheinlich, dass ich in relativ kurzer Zeit Zeuge davon wurde, wie Ihre Kollegen ein Verbrechen in mühevolle Kleinarbeit aufzuklären versuchen.“ Er lächelte. „Ich wünsche Ihnen übrigens viel Glück dabei!“
Orry ließ den Blick über das Innere des Wagens schweifen. Er suchte nach etwas. Irgendeinem Anhaltspunkt vielleicht, was dieser Mann mit den beiden Morden des Road Killers zu tun hatte.
„Komm, Orry. Wir haben zu tun“, sagte ich.
Orry zögerte. „Nichts für ungut, Mister Reigate“, sagte er.
„Ich weiß, dass Sie nur Ihre Pflicht tun“, erwiderte Reigate. „Aber manchmal ist die Pflicht eben nicht genug!“
25
„Komischer Vogel“, äußerte sich Orry, nachdem wir wieder außer Hörweite waren.
„Wir können ihm nichts vorwerfen“, gab ich zurück. „Noch nicht einmal, dass er durch seine Gafferei die Straße versperrt hat! Für den Verkehrsengpass konnte er wirklich nichts!“
„Jesse, ich traue ihm einfach nicht. ‚Ich weiß, dass Sie Ihre Pflicht tun. Aber manchmal ist das eben nicht genug.’ Was redet der denn für einen Mist?“
„Strafbar ist es aber nicht“, gab ich zu bedenken.
„Mag sein.“
„Aber du kannst ihn ja überprüfen und mal sehen, ob NYSIS irgendetwas ausspuckt, wenn du seinen Namen eingibst!“
Orry zog sich seine Seidenkrawatte zurecht. „Das werde ich tun, Jesse! Verlass dich drauf. Und zwar gleich und jetzt.“
Er ging zu dem Chevy aus den Beständen unserer Fahrbereitschaft, mit dem Clive und er hier her gefahren waren, um über den eingebauten Rechner alles abzufragen, was es über Erroll Reigate herauszufinden gab.
Nach einer Viertelstunde kehrte Orry zum Tatort zurück.
Er machte ein ziemlich nachdenkliches Gesicht.
„Was ist bei deiner Abfrage herausgekommen?“, fragte ich.
„Nichts“, antwortete er. „Er ist kein Krimineller. Über NYSIS konnte ich nichts über ihn herausbekommen, aber über Internet ist einiges zu finden. Reigate ist ein millionenschwerer Geschäftsmann.“
„Welche Branche?“
„Er kauft marode Firmen und saniert sie, um sie anschließend mit Gewinn zu verkaufen. Das macht er offenbar sehr erfolgreich, Jesse.“
„Irgendein Verdacht auf einen Zusammenhang mit dem organisierten Verbrechen? Geldwäsche zum Beispiel?“
Orry zuckte die Schultern. „Ich habe im Field Office angerufen. Nat will sich darum kümmern – sobald er Zeit hat.“
Agent Nat Norton war in unserem Field Office der Experte für Betriebswirtschaft. Seine Spezialität war es, Geldströme und verdeckte wirtschaftliche Verflechtungen transparent zu machen, was bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens einen immer wichtigeren Stellenwert einnahm.
„Vielleicht war dieser Reigate einfach nur neugierig“, meinte ich.
„Dieser Mann jongliert mit Millionen. Normalerweise sind das doch Workaholics, die sich genau überlegen, ob sie nicht beim Zähneputzen noch etwas anderes tun können.“
„Er scheint eine Ausnahme zu sein, Orry.“
„Es muss einen Grund dafür geben, dass er sich Tatorte ansieht!“
26
Drei Stunden später saßen Milo und ich zusammen in dem Dienstzimmer,