Könnte schreien. Carola Clever. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carola Clever
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783749786794
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sie mit gellender Stimme: „Du kannst dir deine hysterischen Anfälle für deinen Vater aufsparen. Den mag das beeindrucken, mich nicht!“ Setzte dann noch nach: „Es wird gegessen, was auf den Teller kommt, und deine asoziale Ausdrucksweise unterlässt du auf der Stelle!“ Dabei ließ sie mein Bein schwungvoll zu Boden fallen.

      In meiner Not betete ich: „Lieber Gott, lass meinen Papa kommen und mich retten.“

      Dann geschah das herbeigesehnte Wunder. Unglaublich, aber wahr, nach nur wenigen Minuten hörte ich das wohlbekannte, morseartige Sturmklingeln. Martin kam zur Tür herein. Erleichtert sprang ich vom Tisch auf, rannte in den Flur und fiel ihm erschöpft und erleichtert in die Arme, die er mir in gebeugter Haltung entgegenstreckte. Ella informierte ihn über den Ungehorsam und beschwerte sich über mein unverschämtes Verhalten. Martin streichelte mir über den Kopf und meinte: „Ella, es ist noch nie jemand am vollen Tisch verhungert.“ Ella erwiderte entrüstet: „Sie muss lernen, sich unterzuordnen, Zucht und Ordnung lernt man nur zu Hause.” Ich schloss die Augen und betete, dass ich bald in mein Zimmer entlassen würde.

      Die tägliche Ess-Ritual-Tortur wurde zum Albtraum. Ich beschloss: Wenn ich mal groß bin, esse ich nur Leckerlies.

      EISSCHOLLEN-TAGE

      Seit Wochen hatte ich über Babys gesprochen. Ich wünschte mir noch ein Geschwisterchen. Ella konnte das gut verstehen und gab mir einen Rat. Abends streute ich dann Zucker für den Storch auf die Fensterbank und sang dabei: „Storch, Storch, Bester, bring mir eine Schwester. Storch, Storch, Guter, bring mir einen Bruder.“ Nachts hörte ich aus dem nahegelegenen Park die Eule. Oder war’s der Kuckuck? Der Ruf war mir unheimlich. Frühmorgens, lang, bevor ich wach war, leckte Alex den Zucker von der Fensterbank. Ich war wütend auf den Storch, anscheinend fand er das Haus nicht. Oder hatte ich zu wenig Zucker gestreut?

      Einen Monat später hörten wir Kinder ein Telefonat mit an. Ella sprach aufgebracht über ihre Abtreibung mit ihrer Schwester Hella. Obwohl es schon Jahre her war, hatte sie immer noch körperliche und seelische Nachwehen. Sie wäre fast verblutet. Unter keinen Umständen wollte Martin ein weiteres Kind. Die zwei reichten ihm. Beide waren schwierig und kostspielig. In seinen Augen waren es nur die Asozialen, die einen Stall voller Kinder hatten und dem Staat und damit auch ihm auf der Tasche lagen. Es gab Wichtigeres für ihn. Seine Argumente reichten von: Sparen für ein größeres Haus, größeres Auto, schönere Möbel, weitere Reisen. Ella war enttäuscht von seiner Haltung, materielle Dinge, so angenehm sie auch waren, gegen ein Kind aufzuwiegen. Sie kannte Einige, die sich sehnlichst ein Kind wünschten und keines bekamen.

      Wieder einmal hatte Martin sie verbal manipuliert und sie hatte es zugelassen. Hilflos in ihrer Argumentation hatte sie nichts dagegenzusetzen. Sie konnte sich gegen ihn einfach nicht behaupten.

      Ihre anschließenden kleinen Spielchen mit entsprechenden Bestrafungsmaßnahmen wie Sexentzug, grußlosen Schweigetagen mit leidender stiller Miene brachten auch keinen Erfolg. Wie immer, wenn sie verschiedener Meinung waren. Diese Tage nannte sie dann Eisschollen-Tage. Jeder saß auf seiner Eisscholle und fror vor sich hin.

      Abends im Bett vor dem Einschlafen dachte Ella darüber nach, dass Frauen die Macht hatten, über Leben und Tod zu entscheiden. Sie bestimmten, welches Kind leben und welches sterben sollte. Wahrlich eine sehr mächtige Position. Frauen brachten Leben auf die Welt. Frauen wussten den Wert des Lebens viel mehr zu schätzen als Männer. Wissen das eigentlich alle Frauen?, fragte sie sich.

      Auf jeden Fall spürte sie ihre Gewissensbisse, die bis zum heutigen Tag reichten. Selbstbezogen und verunsichert in ihrer Entscheidungsgewalt hatte sie sich für den Tod ihres Fötus entschieden. Nein, er war noch kein fertiger Mensch im herkömmlichen Sinne gewesen, aber in der Entstehung begriffen, einer zu werden, und sie hatte sich als Richterin über das Leben aufgespielt. Bei diesem Gedanken musste sie weinen. Zweifel stiegen in ihr auf. War das die richtige Entscheidung gewesen? War sie eine Mörderin? Hatte sie es aus egoistischen, situationsbedingten Gründen getan? Eindeutig ja! Ihr wurde schlecht. Nachts lief ihr dieser Gedanke immer wieder über die Bettdecke. Nicht nur in Zeitungen las sie über das Thema. Auch sie kannte einige Frauen, die aus den unterschiedlichsten Gründen abgetrieben hatten. Entweder war es der falsche Partner, ein fremder Partner, die Ausbildung, das Studium, die Eltern, Geldmangel oder die Religion, die die Abtreibung legitimierten. Langfristig hatten es sehr viele bereut. Sie auch.

      GLÜCKLICHE TAGE

      Sonntags, während Ella das Mittagessen vorbereitete, gingen wir oft schon früh morgens im Wald spazieren. Nach einem üppigen Mahl folgte meist die Genuss-Zigarre. Martin liebte die Klassiker. Opa hatte sie ihm nähergebracht. Er legte eine Schallplatte, Friedrich Smetanas Die Moldau, für uns auf. Martin saß mit geschlossenen Augen im Sessel. Kaum sichtbar, war er eingehüllt in Rauchschwaden seiner dominikanischen Tabakwolke. Er dirigierte voller Inbrunst mit imaginärem Taktstock à la Karajan die Melodie, erklärte uns seine Vorstellung, wie aus einem kleinen plätschernden Rinnsal, das durch Täler mäandert, ein reißender, wilder Fluss wurde. Ella saß dann zufrieden lächelnd, die Melodie summend, auf seiner Sessellehne, hatte ihren Arm um seinen Hals geschlungen und wirkte glücklich.

      Wir taten es ihnen gleich, saßen dicht nebeneinander händehaltend auf der Couch und stiegen in die musikalische Vorstellung gedanklich ein. Durch dieses Ritual wurde uns die klassische Musik immer vertrauter. Wir machten dann eine Art Wunschkonzert. Jeder durfte sich zwei Stücke wünschen.

      Alexander liebte Mozart und den Bolero von Ravel. Ich begeisterte mich für die Klaviersonate No. 1 von Tschaikowski. Ella liebte den Rosenkavalier. Alle zusammen liebten wir den Papageno aus der Zauberflöte. Und so variierte unser Repertoire im Laufe der Zeit.

      Aber wenn dann abends Paulchen Kuhn oder James Last die Bretter der Fernsehbühne betraten, war Martin nicht mehr zu bremsen. Schnell wurden die Möbel gerückt, um einer Tanzfläche zu weichen.

      Martin, körperlich wie elektrisiert, eilte zum Fernseher und sprudelte: „Paul, leg noch mal den Riemen auf die Orgel“, stellte die Lautstärke höher, dass die Tassen in der Vitrine hüpften, und forderte Ella zum Tanz auf: „Komm, Häschen, wir legen noch mal ‘ne flotte Sohle aufs Parkett!“

      Und dann ging die Party erst richtig los. Ausgelassen kickten wir Kinder die Schuhe durch die Luft und tanzten barfuß bis zur Erschöpfung. Wir wurden süchtig nach diesen Einlagen der Ausgelassenheit. Kichernd machten wir uns zum Schlafen fertig.

      Freizügig und nackt ging es bei uns zu. Martin begann sein allabendliches Zu-Bettgeh-Ritual. Samstags war es besonders bemerkenswert. Er zog seinen Anzug, Krawatte und Hemd aus und legte alles fein säuberlich in genau dieser Reihenfolge über einen Stuhl, löste die elastischen Strumpfbandhalter von den Kniestrümpfen und stellte seine hochglanzpolierten Schuhe fein säuberlich daneben. Nackt lief er tänzelnd ins Schlafzimmer. Er holte seinen dunkelblau gestreiften Pyjama unterm Kopfkissen hervor und kam zurück ins Wohnzimmer. Die endorphingeschwängerte Atmosphäre stieg steil wie eine Fieberkurve nach oben. Wir beobachteten, wie sich Martin strahlend und grinsend vor Ella aufstellte. Schwungvoll drehte er seine Hüfte von links nach rechts, schlenkerte mit seinem Schniedelwutz hin und her. Während der Schniedel auf seinen Oberschenkeln klatschte, meinte er lachend: „Jetzt geht der kleine Bösewicht Heia machen oder sollte er noch eine Runde drehen?“

      Ella lachte empört. „Deine Showeinlagen sind unmöglich, weißt du das?“ Sie ging verschämt aus dem Wohnzimmer, um ihrerseits die entsprechend schwarzrot berüschte Garnitur rauszuholen. Ella liebte diese Aufmerksamkeit. Hoffnung stellte sich wieder ein.

      Wir haben sie nie live und in Farbe in diesem Aufzug gesehen, aber wundersam kam es uns schon vor, wenn sie die Sachen im Wohnzimmer drapierten. Die Garnitur bestand aus hochhackigen roten Pumps, sie nannte sie Bettschuhe, und einem Hauch von zarttülligem schwarzem Nichts, es diente wohl als Nachthemd. Einmal bemerkten wir bei einer unserer heimlichen Betrachtungen dieser Wäsche in Ellas Abwesenheit, dass der dazu passende Slip auch noch einen Schlitz hatte. Wir rätselten! Wahrscheinlich war der zum bequemen Pipimachen! Wir versuchten, uns Ella in diesem Aufzug vorzustellen. Dabei kugelten wir uns vor Lachen, beschlossen, dass es ein Karnevalskostüm sein musste. Wir fanden diese Artikel urkomisch, hätten uns vor Lachen wegschmeißen können.

      Oft