Eintrag Fragebuch: Wie können sie nur immer und immer wieder in diese Schwachsinns-Gespräche abgleiten? Schäme mich für sie. Die halten nur Monologe. Die Beschuldigungen werden immer verletzender. Sie sind demütigend. Warum tun die das? Machen das alle Paare hinter verschlossenen Türen?
Könnte schreien!
Montag, Gott sei Dank! Kann und darf zur Schule gehen! Das Wochenende war wieder anstrengend. Freue mich auf die Mädels und Freund Norbert. In den Pausen vertrauen wir uns gegenseitig unsere aktuellen Geheimnisse, Sorgen und Wünsche an.
IDIOTEN-KNIGGE
Ich hatte in den letzten fünf Monaten einen unglaublichen Schuss getan, nicht nur in die Höhe. Das enorme Hochwasser markierte die Messlatte des Wachstums bei den Hosen: wadenlose, spinnengleiche Beine, dünner als dünn.
Ella: „Wenn du gehst, siehst du aus wie ein Storch im Salat.” Also gehen konnte ich auch nicht.
Was konnte ich? Nichts. Normal. Alexander attackierte sie nicht in dieser Form. Gott sei Dank! Noch sollte ich im Dunkeln tappen, warum das so war. Ella hatte noch immer einmal wöchentlich die vier Knigge-Stunden parat. Mir wäre es lieber gewesen, sie hätte mir aus Büchern vorgelesen oder sich mit mir unterhalten, und nicht dieser gesellschaftliche Drill. Da ging es heute um elegantes Gehen. Oder besser Schweifen oder Dahingleiten. Anweisungen, wie Frauen korrekt und graziös Treppen hinauf- und hinuntergehen, nämlich Hüfte seitlich gedreht, leicht in die Knie. Die Beine zusammen. Wir übten an den fünf Gartenstufen, an der Eingangstreppe. Mit und ohne Pumps. Ellas Ermahnungen bezüglich Kopf- und Schulterhaltung konnte ich im Schlaf singen. Meine Füße machten mir jedoch Schwierigkeiten, weil sie im derzeitigen Entwicklungszustand drei Nummern zu groß für meinen Körper waren, ich dadurch beim Gehen zu Ellas Horror in die Knie sackte.
„Du läufst wie ein Bauer, ohne Grazie! Heb die Füße beim Gehen. Du lässt sie über den Boden schlurfen. Das sieht verheerend aus. Du willst doch später mal Pumps tragen, oder?“ Total genervt, im weinerlichen Ton erwiderte ich: „Ich versuche es ja, es will mir einfach nicht gelingen. Würde gern aufhören!“, flehte ich.
„Wie bitte? Aufhören? Du musst mehr wollen. Irgendwann zeigt wirklicher Biss seine Wirkung. Echter Mut steht meist am Anfang vom Handeln, das Glück winkt dir am Ende.“
„Du quälst mich mit diesen doofen Sprüchen, die kein Mensch versteht, mit dem Idioten-Knigge, der mir die Nachmittage versaut.“ Ella zuckte gleichgültig mit den Schultern, mahnte: „Du musst dir dringend eine andere Ausdrucksweise angewöhnen, du hörst dich schrecklich gewöhnlich an.“
Egal was ich machte oder sagte, alles war nicht gut genug, schrecklich, gewöhnlich, nicht elegant genug, nicht stilgerecht, nicht angemessen. Meine Eltern litten unter Kritiksucht.
Eintrag Frustbuch: Vielleicht kann ich ja wirklich nichts gut? Vielleicht bin ich ja dumm, tollpatschig, ungehobelt, trottelig! Wenn ich so bin, wie beide meinen, woher kommt das dann?
Bin ich so geboren? Sind die beiden daran beteiligt? Bin ich aus der Art geschlagen?
Martin meinte, Intelligenz lässt sich nicht vererben! Okay, dann bin ich eben hässlich und dumm!
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