„Wie, verbrannt?“, fragte Anita. Ella erklärte ihr die Umstände.
„Ach du liebe Zeit, ich glaub es ja nicht. Warte zwei Minuten, ziehe mir nur schnell etwas über.“
Cookie verlor seine komplette Rückenbehaarung in der Praxis von Dr. Weltermann. Es waren Verbrennungen dritten Grades. Unter unsäglichen Schmerzen und schreiend lag Cookie mit nässendem Verband winselnd in seinem Körbchen. Ella machte sich herbe Vorwürfe, fühlte sich schuldig an seiner Situation. Wenn ihr Blick zu Cookies Körbchen wanderte, musste sie unweigerlich weinen.
Wochenlang lagen wir Kinder nach der Schule auf den Knien vor seinem Körbchen, streichelten ihn abwechselnd. Fütterten ihn mit Leckerlies. Säuberten und cremten seine jetzt krustig gewordenen Wunden. Legten neue Verbände an, aber Cookie wirkte weiterhin apathisch. Es dauerte Monate, bis er fröhlicher wurde. Seit dem Unfall schlief er nachts bei uns Kindern im Zimmer. Alex hielt seinen Arm ins Körbchen. Ich streichelte sein Köpfchen und sang ein Lied vor. Das beruhigte Cookie.
Obwohl er mehrmals täglich von uns ausgeführt wurde, begann Cookie nach Wochen, auf Teppiche im Flur, Esszimmer und Wohnzimmer zu pieseln. Ella war wütend über die zusätzliche Arbeit, die sichtbaren Urinflecken. Mittlerweile wuchs ihr alles über den Kopf. Sie traf eine Entscheidung, band ab diesem Tag Cookie mit einer längeren Leine am Küchenheizkörper fest. Wir kamen aus der Schule, sahen Cookie am Heizkörper angebunden und waren entsetzt.
Alex bat: „Mama, könnten wir ihn nicht in unserem Zimmer laufen lassen? Wir passen auch auf ihn auf.“ Ich unterbrach ihn: „Och, bitte, Mama, bei uns macht er nichts.“
Aber Ella ließ nicht mit sich reden. „Cookie bleibt, wo er ist.”
Wir Kinder schliefen in dieser Zeit nachts zusammen in einem Bett. So wie wir es immer taten, wenn uns eine Situation belastete. Immer wieder schreckten wir nachts mit Albträumen auf, sahen Cookies hässlich verkrustete Wunden und weinten bitterlich. In diesen Nächten machte Alex das Licht an und las mir mein Lieblingsmärchen vom Froschkönig vor. Immer wieder, bis ich einschlief und den Kuckuck, nein, das Käuzchen, hörte.
Im Oktober feierte ich meinen zehnten Geburtstag. Oma Clara meinte: „Du bist ein Glückskind der Luft, im sogenannten goldenen Monat geboren. Es gibt eine Münze, den Franc, geprägt mit deinem Symbol. Jedes Land mit einem Rechtssystem symbolisiert durch Madame de la Balance, die Justitia. Wirklich Kleines, wer kann das schon von seinem Sternzeichen sagen!“ Ich verstand ihre Worte nicht, aber es musste etwas Nettes gewesen sein, denn Clara sagte nie etwas Unschönes.
Alex hatte mir eine große Spardose aus weißem Porzellan im Stil des Froschkönigs geschenkt. Mein Lieblingsgeschenk! Von den Eltern gab es Rollschuhe und ein neues rotes Kleid. Die Nachbarskinder, Freunde der Eltern, die Tanten mit Familie, Großeltern kamen zu Besuch. Es war ein unvergesslicher Tag. Abends vor dem Einschlafen kroch ich meist zu Alexander ins Bett, kuschelte mit ihm und meinte: „Danke, danke für den Froschkönig. Werde ihn über mein Bett auf das Regal stellen, dann kann ich ihn immer sehen. Alex küsste mich: „Schön, dass er dir gefällt.“ Dann schliefen wir friedlich zusammen ein.
MUTPROBE
Auch im Elternhaus der Freunde hörte Alexander von körperlicher Gewalt und verbalen Erniedrigungen, die an der Tagesordnung waren. Freund Bernd und Erwin bekamen es täglich hautnah von beiden Elternteilen zu spüren. Erwin, ein Draufgänger, mittlerweile auch Raufbold, machte sich durch Prügelattacken auf dem Schulweg einen Namen. Die Mitschüler fürchteten sich vor ihm.
Ausgenommen seine besten Freunde, Alex und Erwin. Körperliche Züchtigung, Ehestreit, Zorn- und Wutausbrüche, Hass und Gewalt waren für viele Kinder tägliche Erlebnisse. Schlagen war gesellschaftsfähig. Es fand zu Hause, in der Schule und während der Ausbildung statt. Einen entsprechenden Leitartikel konnte Alex in der Zeitung lesen. Bernds Eltern arbeiteten ganztags, Bernd war ein Schlüsselkind. Optisch machte er einen verwahrlosten Eindruck. Er war Denker und Tüftler, sportlich, ehrgeizig. Seine Gewaltfantasien lebte er durch enorme Zerstörungswut aus: zerstörte sein Fahrrad. Wenn die Teile nicht zusammenpassten, trat und schlug er aus Wut aufs Rad. Beim Aufbau seiner imaginären Ritterburg übermannte ihn des Öfteren eine plötzliche Welle der Wut. Dabei schleuderte er alle Teile seiner Ritterburg quer durchs Zimmer.
Am frühen Nachmittag klingelte das Telefon im Flur. Ella nahm den Hörer ab, meldete sich: „Ella Behrmann, guten Tag.” Nach einer Weile sagte sie: „Mein Sohn doch nicht! Das kann ich nicht glauben. Herr Stratmann, sind Sie sicher?“ Dann hörte sie eine Weile zu, verabschiedete sich mit den Worten: „Wir werden uns um die Angelegenheit selbstverständlich kümmern. Sie hören von uns, Herr Stratmann!“ Mit hochrotem Kopf legte sie den Hörer auf, platzte in die Küche, stellte Alex zur Rede: „Ich hatte dich heute Mittag gefragt, wieso du so spät aus der Schule gekommen bist. Kannst du dich noch an deine Antwort erinnern?“ Alex, sichtlich nervös, rutschte auf seinem Stuhl hin und her: „Ich habe mit Bernd und Erwin einen Umweg gemacht, wieso?“ Mit drohendem Unterton bemerkte sie: „Deine Antwort kannst du dir bis heute Abend gut überlegen, wenn dein Vater nach Hause kommt.”
Alex verließ die Küche, ging ins Kinderzimmer. Trat wütend gegen den Schreibtischstuhl, der gegen die Schreibtischplatte knallte. Schmiss seinen Schulranzen aufs Bett, nahm sein Geschichtsbuch und Hefte heraus. Begann in Bauchlage, konzentriert zu lesen. Direkt nach dem Wortwechsel mit Alex hatte Ella das Haus mit Cookie verlassen. Sie war auf dem Weg zu Anita. Ich kam aus dem Wohnzimmer in gebeugter Haltung, pirschte über den Flur, schaute mich vorsichtig zu allen Seiten um. Die Luft schien rein zu sein, ich hatte das Gespräch zwischen Alex und Ella belauscht. Auf Zehenspitzen ging ich ins Kinderzimmer und sprach Alex von hinten an: „Sag mal Alex, heißt der Schuldirektor nicht Stratmann? Weißt du, warum er angerufen hat?“ Alex drehte sich um, setzte sich im Bett auf: „Ich habe keinen blassen Schimmer. Kann mir nicht vorstellen, dass der etwas weiß.“
„Was soll er denn wissen?“, fragte ich.
Alex runzelte die Stirn. „Na, von unserem Ausflug über die Bahnschienen, den Feldern und so.“
„Wieso, was habt ihr da gemacht?“
„Das war eine Mutprobe. Bernd meinte, ich traue mich nicht, über die Bahnschienen zu laufen, um den Feldweg nach Hause zu nehmen. Wollte es beweisen. Wir sind zu dritt, Erwin war auch dabei, über mehrere Schienen gelaufen. Rechts war ganz nah der Zug zu sehen. Erwin stolperte an einer Schwelle, konnte sich aber noch fangen. Der Zug gab mehrfach Signal. Sind dann die Böschung mit dem Schotter runtergelaufen bis zum Feldweg. Bei der Apfelplantage haben wir uns ausgeruht. Erwin schlug vor, Äpfel zu klauen. Schlugen die Äpfel mit Stöcken vom Baum. Sammelten sie auf. Manche haben wir direkt gegessen. Andere haben wir nur angebissen und Weitspucken gemacht. Das war toll. Ich habe am weitesten gespuckt.“
Bewundernd säuselte ich: „Kann ich mir denken. Wenn wir Kirschkerne spucken, gewinnst du auch immer. Du bist einfach der Beste.“
Alex wurde zusehend nervöser. „Es war keiner zu sehen. Wieso konnte der Direktor davon wissen?“
„Keine Ahnung, vielleicht meinte er etwas anderes. Komm, lass uns was spielen.“
Beim Aufbau der Klötze vom „Mensch ärgere dich nicht“ schrie Alex plötzlich. Er warf die Würfel quer durchs Zimmer.