Nur Hilde war das Strahle-Mädchen. Durch Polio früh an den Rollstuhl gefesselt, zeigte sie allen immer wieder, wie man mit jeglichen Herausforderungen friedfertig, gut gelaunt und optimistisch ins Leben blickend fertig wurde. Ein Mount Everest an Güte und Verständnis. Alle liebten ihren Humor. Ja, sie genoss ihre Hochachtung. Wenn die Freundinnen Hilde mit ihrer Immobilität erlebten, kamen sie sich oft lächerlich vor mit Problemen wie Krankheiten, Alkoholsucht, Fresssucht, Frustkäufen, Arbeitslosigkeit, zwischenmenschlichen, sexuellen oder finanziellen Schwierigkeiten. Trotzdem empfand jede ihr Problem als schrecklichstes, besonders belastendes oder kompliziertestes.
In dieser Runde philosophierte Freundin Hilde dann: „Wir lenken uns ab mit anderen Menschen und deren Situationen, um Zeit zu gewinnen, um nicht an die eigenen Probleme zu denken. Liefern uns Fress-Attacken aus, um die innere Leere und Verletzlichkeit zu füllen. Nehmen hochprozentige Alkoholika zu uns, um im Rausch der Sinne die Selbstzweifel zu unterdrücken und zu betäuben.“
Ella dachte: Hat sie eine Kugel? Kann sie mein Innerstes sehen?
Diese Nachmittage wollte sie nicht missen. Sie waren auch lustig und amüsant, die offenen, tiefgründigen Gespräche und Reflexionen der Einzelnen lehrreich und interessant.
INDIANER-TAGE
Noch Wochen nach diesen Treffen fühlte sich Ella wie im Zoo. Seelisch hatte sie dann mal wieder die Talsohle erreicht. Beim Anblick der Tiere hinter Gittern und Zäunen fühlte sie immer mit ihnen. Auch sie war körperlich und seelisch gefangen. Unfähig, sich selbst und ihre Situation zu ändern. Fremdbestimmt. Der dringend benötigte Humor wollte sich bei ihr nicht einstellen! Sie empfand neuerdings, dass ihr Umfeld sie mit listigen, argwöhnischen Augen musterte. Jederzeit schien man bereit, sie erst zu beurteilen, um sie dann zu verurteilen. Anmaßend schienen die anderen Richter ihres Lebens zu sein. Sie nannte das „Indianer-Tage.” Alle lagen auf der Lauer, um mit dem Fallbeil über sie zu richten. Ihre Therapeutin hatte die Diagnose „Schizophrenie“ durchblicken lassen, aber sie war nicht krank oder verhaltensgestört. Es waren nur die Umstände. Die Therapeutin musste sich irren.
Ella machten diese sich wiederholenden Situationen Angst. Sie fühlte sich hilflos, spürte, dass die Kinder darunter litten. Sie kränkelten oft, waren nervös und reagierten unsicher. Sie wollte ihnen eine andere Kindheit ermöglichen, wusste aber nicht, wie sie diese Veränderung herbeiführen sollte. Sie spürte ihre eigene Verzweiflung und die der Kinder. Fragte sich, wie sie ihre aufgestaute Aggression, die sich in der körperlichen Züchtigung der Kinder entlud, in den Griff bekommen konnte. Sie selbst hielt die ehelichen Wechselbäder, bestehend aus ständigem Streit, Wut- und Zornausbrüchen, kaum noch aus. Eine Veränderung musste her, nur wie? Sie wusste es nicht.
Bei mir waren die Wesensveränderungen besonders groß. Ich rülpste beim Essen und fand es belustigend, meine Mutter zu provozieren, reagierte aggressiv bei Zurechtweisungen. Alexander blies in dasselbe Horn und kratzte sich dann im Gespräch am Hoden. Wohlwissend, dass Ella es hasste. Wir relativierten Ellas wütende Ermahnungen mit der Bemerkung: „Macht Papa doch auch!“
Oder: „Sagt Papa doch auch!“
Ich begann zu beißen, zu treten und zu spucken, wenn ich angegriffen wurde. Meine hysterischen Kreisch-Anfälle und Wutausbrüche uferten aus. Alexander wechselte vom verbissenen Basteln und Tüfteln zu beklemmender Resignation und Verschlossenheit. Er wurde so verschlossen, dass sie ihn nicht erreichte, es war, wie wenn man durch das Matterhorn mit dem Zahnstocher bohren wollte. Ella fühlte sich machtlos.
Ich hatte Zahnprobleme, nicht nur wegen der zu engen Zahnspange, die wie festgetackert an den Zähnen klebte. Ich lispelte und sprach, als wenn ich ständig den Mund voll hätte. Man hatte mir das Lippenbändchen zwischen den beiden Vorderzähnen eingeschnitten, weil diese Wulst die überdimensionierten Vorderzähne auseinanderpresste und somit eine Zahnlücke entstanden war.
Die Korrektur erfolgte über die Zahnspange. Der konsultierte Zahnarzt meinte, dass Zähne eine Art Waffenlager seien. Man mahlt mit den Zähnen, um ein Problem zu zermahlen, zeigt, dass man sich in einer Sache festbeißen kann. Kronen, Brücken, Prothesen dienen als Blendwerk. Ausgeprägte Reiß-, also Eckzähne, verraten etwas über den reißerischen Charakter. Eine interessante Definition, befand Ella.
Ich hasste das zubereitete Essen Ellas, daran konnte auch der Geschmacksverstärker Maggi nichts ändern, der griffbereit bei jedem Essen auf dem Tisch stand. Ich redete viel, hatte tausend Fragen zu allem und nichts, nur um vom Essen abzulenken. Lustlos stocherte ich im Essen, legte dann das Fleisch, besonders den Speck, der sich wie ein Krater vulkanartig auftürmte, fein säuberlich um den Tellerrand.
Alexander erging es ähnlich, aber er war gespalten. Man sah es an seiner unentschlossenen Haltung: mal vorgebeugt und gekrümmt, mal gerade, mit zurückgezogenen Schultern. Einerseits hatte er keinen großen Appetit, andererseits wollte er Ella nicht verärgern. Er ließ die Schultern hängen, fixierte seinen Blick, starrte dabei auf seinen Teller, aß widerwillig, was vor ihm lag.
Zweimal die Woche gab Ella Unterricht in gutem Ton und Benehmen. Dazu konsultierte sie ihr Heiligtum: Das Einmaleins des guten Tons. Gebetsmühlenartig las sie daraus vor. Der Löffel, die Gabel werden zum Gesicht geführt, nicht der ganze Körper zum Essen. Ab sofort, entschied sie, hatten wir das Mittagessen mit einem Besenstil im Rücken einzunehmen. Zuerst war es ja lustig und wir kicherten darüber. Dann entwickelten wir eine starke Abneigung gegen diese Methode. Ella ließ nicht locker. Nach Monaten dieser mittäglichen Tortur hatten wir die für sie richtige Haltung eingenommen. Die Dressur war ihr gelungen.
Es war an einem Mittwoch, als es wieder einmal diese verhasste Klunkersuppe gab. In die kochende Milch wurde ein Klumpen aus Eiern und Mehl geworfen, was dieses Klunk-Geräusch in der Milch erzeugte. Der brodelnde Milchgestank, leicht süßlich, kroch durch jede Ritze im Haus und erreichte den Vorplatz am Hauseingang. Gott, wie ich die Suppe hasste. Schon im Flur meldeten sich bei mir die ersten Würgereize. Wenn man auf die Mehl-Eier-Brocken biss, hatte man diesen undefinierbaren, geschmacklosen, ekligen, matschigen Geschmack im Mund. Synchron rollten Alex und ich unsere Augen nach hinten und aßen die verhasste Suppe mit langen, dolchartigen Zähnen.
Der Bauchspeck wurde nicht gebraten, nein, Ella kochte ihn in der Pfanne mit Wasser. Dadurch verfärbte sich das Fleisch in Schweinchen-Rosa. Bei diesem Anblick bekam ich regelmäßig Schluckbeschwerden und feuchte Hände am Tisch. Ella stand mit dem Rücken zu uns am Herd. Ich ergriff jetzt meine gebotene Chance, um meinen Unmut und Widerwillen zu demonstrieren. Alexander ahnte, was kam, und hielt sich die Augen zu. In gebeugter Haltung, die langen Haare fielen über mein Gesicht, spuckte ich heimlich das wabbelige Fleisch in meine Hand und ließ diese ausgestreckt unterm Tisch zum Hund gleiten. Cookie schnappte gierig nach dem Fleisch. Zu meinem Entsetzen schluckte er die Fleischbröckchen laut schmatzend genüsslich runter. Ella wurde hellhörig, bemerkte den Vorgang, drehte sich um und kam zum Tisch. Holte aus und verpasste mir eine schallende Ohrfeige. Heulend und schniefend begann ich zu würgen. Den Würgereiz untermalte ich mit der entsprechenden Haltung sowie Würgetönen. Ella, mit hochrotem Kopf, war sichtlich empört: „Deine hysterischen Anfälle beeindrucken mich nicht, die kannst du dir sparen!“ Meine Showeinlage hatte keine Wirkung gezeigt.
Jetzt sauwütend spuckte ich die nächsten Fleischbrocken auf den Boden, stampfte mit dem rechten Schuh, voller Wucht auf das Fleisch, bis es seitlich an der Sohle hervorquoll und schrie: „Und diese Scheiße fresse ICH NICHT!“ Wohl wissend, dass ich mit dem Wort Scheiße einen Treffer bei ihr gelandet hatte. Die Fäkalsprache, die ich einsetzte, war ihr mehr als verhasst.
Ella zitterte, die Atmung kam ruckartig, ihr gewaltiger Busen bebte auf und nieder. Körperlich aufgebracht und hochgradig wütend, eilte sie zur Besteckschublade, nahm ein