Er heulte wie ein Kind.
Schlaff hingen ihre Arme am Körper herab.
»O Benedikt, warum nur? Ich verstehe das nicht. Woher weißt du denn, was ich tue?«
»Hanko hat es mir erzählt«, sagte er dumpf.
»Hanko? Der?«
»Ja, ich habe ihn besucht, ich wollte deine Adresse. Da hat er mir die Augen geöffnet.«
»Hanko hat dir die Augen geöffnet?«
»Ja«, schrie er ihr ins Gesicht. »Er hat mir erzählt, dass du ihn verlassen hättest, weil du eine Dirne bist. Er hätte außerdem deshalb nicht mit dir zusammenleben können. Als er mir das sagte, zerbrach etwas in mir. Du hast mir alles genommen, Karla, alles! Zuerst meinen besten Freund Hanko. Wie habe ich ihn geliebt, vergöttert, er war für mich alles. Du hast ihn mir genommen, bist zu ihm gezogen, ließest mich im Stich. Dann hast du Hanko auch noch in den Schmutz gezogen. Es ist schrecklich, ich kann nicht mehr normal leben. Du hast mir den Glauben an das Gute genommen, Karla. Du hast mich zerstört.«
Karla begriff, dass sie es mit einem kranken Menschen zu tun hatte. Sie wusste auch, wie gemein und widerlich dieser Hanko im Grunde seines Wesens war.
»Hör zu«, sagte sie leise, »ich weiß nicht, ob du mir glaubst. Ich schwöre dir bei der Liebe zu unseren verstorbenen Eltern, er hat es erzwungen, er hat mich auf den Strich geschickt. Es hat viel gekostet, mich von diesem Satan zu befreien. Das ist die Wahrheit. Er hat mich ruiniert.«
»Aber warum bist du dann auf dem Strich? Hanko ist nicht mehr dein Lude, du sagst es doch selbst.«
Karla holte tief Luft.
»Ich bin hier, um dich zu fangen.«
»Was? Sag das noch einmal!«
»Ich bin ein Lockvogel, ich wollte Vera rächen, verstehst du das? Sie hat eine kleine Tochter, sie muss jetzt im Kinderheim leben. Ich wollte den Tod meiner besten Freundin rächen, darum bin ich hier. Ich bin keine Straßendirne, ich schwöre es dir.«
Benedikts Gesicht war schneeweiß geworden.
»Das ist nicht wahr!«
»Doch, ich sage die Wahrheit, Benedikt. Es ist schrecklich. Was soll ich tun?«
Sie wusste es in dieser Sekunde, sie konnte ihn nicht verraten, sondern musste ihn bekehren. Wenn sie es schaffte, ihn davon abzubringen, solche Wahnsinnstaten weiterhin auszuführen, konnte er vielleicht geheilt werden.
»Du sollst mir eine Falle stellen?«
»Ja, aber ich habe nicht gewusst, dass du der Mörder bist, Benedikt.«
Mit dieser Aussage machte sie einen gewaltigen Fehler.
In der Vergangenheit hatte sie stets Macht über den etwas willensschwachen Bruder. In diesen Sekunden glaubte sie nicht, dass wirkliche Gefahr von ihm ausging. Sie musste ihm helfen. Karla war fest entschlossen dazu und froh, dass sie den Sender nicht betätigt hatte.
Benedikt kam näher auf sie zu. Er war gefährlich ruhig und gelassen. Seine übergroßen Augen starrten sie an.
Dann hörte sie ihn sagen: »Es tut mir schrecklich leid, aber ich muss dich töten.«
»Benedikt, ich bin deine Schwester.«
»Ich habe eine Aufgabe zu erledigen, du kannst mich nicht daran hindern. Jetzt erst recht nicht, denn nun muss ich dich auch noch rächen. Du bist mir im Wege. Verzeih.«
Sie wich vor ihm zurück.
Er war da und legte die Hände um ihren Hals.
Karla starrte in die irren Augen ihres Bruders. In diesen Sekunden war sie wie gelähmt.
Das genügte, und er drückte zu.
Schwarze und rote Ringe tanzten vor ihren Augen. Um sie herum entstand ein Wirbel, unergründlich und tief.
Er sah, wie sie ihn entgeistert anstarrte. Dann stürzte sie zu Boden.
Sie blieb reglos liegen. Unter ihrem Kopf lag die kleine Tasche.
Benedikt stand breitbeinig über sie gebeugt. »Kleine Karla, es tut mir leid.«
Dann rannte er davon.
17
Verden fluchte. Er hatte sich für diese Nacht einteilen lassen. Sie dösten im Wagen, als sie bemerkten, dass die Ausstrahlung des Senders sich veränderte.
»Sie geht schon fort.«
»Nun gut, dann können wir uns zeitig schlafen legen.«
Der Sender blieb konstant. Sie hatte das eigentliche Viertel aber noch nicht verlassen. Erst, wenn sie ihre Wohnung betrat, stellte sie ihn ab. So war es vereinbart worden.
Sie musste stehengeblieben sein. So lange konnte sie doch unmöglich mit einem Kunden sprechen.
»Sollen wir mal nachsehen?«
»Sie hat den Ruf nicht betätigt. Wir warten noch einen Augenblick.«
Die Minuten verstrichen, und sie wurden sichtlich nervös.
»Was tun, sollen wir handeln?«
»Wenn wir zu früh kommen, vermasseln wir alles. Wir warten noch genau vier Minuten, dann sprinten wir los.«
Kaum hatte er den Satz beendet, da ertönte das Signal.
Sie sprangen aus dem Wagen. Die Straße lag wie ausgestorben vor ihnen. Von Menschen keine Spur.
Das Signal blieb immer noch konstant.
Verden sah sie zuerst.
Karla war mit dem Köpf auf die Tasche gefallen und hatte damit den Ruf ausgelöst.
»Mein Gott«, sagte er erschüttert.
»Ist sie tot?«
Er fühlte ihren Puls.
»Nein, rufe den Arzt. Schnell!«
Verden versuchte inzwischen, was man ihm für solche Situationen beigebracht hatte. Bis der Arzt endlich kam, war für ihn eine Ewigkeit vergangen. Wenn Karla starb, würde er schwer darunter leiden müssen. Sein Gewissen würde ihn plagen.
»Karla, Karla, lebe, ich flehe dich an, lebe!«
Der Arzt kniete im Schmutz der Straße und gab ihr ein paar Spritzen. Die Trage stand bereit. »Wir bringen sie in die Klinik.«
»Wird sie es schaffen?«
Er zuckte die Schultern.
Karla wurde emporgehoben, und als man sie in den Wagen schieben wollte, öffnete sie die Augen.
Sie röchelte, und der Hals tat weh, als wäre er eine einzige, heiße Flamme.
Verden beugte sich über die Dirne.
»Karla, wie bin ich froh. Du bist wirklich aus hartem Holz.«
Sie versuchte zu sprechen.
Verden sagte: »Später, ich komme morgen in die Klinik. Du warst ein tapferes Mädchen.«
Sie hielt seinen Arm umklammert. Der Arzt drängte zur Eile. Verden stellte die entscheidende Frage; es geschah fast gegen seinen Willen.
»Du kennst den Mörder?«
Sie nickte schwach.
»Karla, wo kann ich ihn finden? Wo? Nur ein Wort, bemühe dich, Karla.«
Sie wollte sprechen, sie musste es. Eine Bestie lief herum, sie hatte ihn nicht halten und retten können. Jetzt mussten es andere tun.
Sie öffnete den Mund und gab ein undeutliches Wort von sich.
Verden