Darüber hinaus finden sich Millionen von Arbeitnehmern und Selbstständigen von einem Tag auf den anderen im Homeoffice wieder. Was erst einmal romantisch klingt und auch entlastend, weil das nervende morgendliche Gedränge im Bus wegfällt, ist auf den zweiten Blick für viele eine riesengroße Herausforderung. Während sich die einen den Arbeitsplatz zu Hause mit Blick in den Garten oder in die Weinberge einrichten können, sitzen andere mit zwei kleinen Kindern in einer winzigen Wohnung oder in der Studenten-WG, wo es nicht einmal einen richtigen Schreibtisch gibt, das Internet hängt und man sich von Tag zu Tag mehr auf die Nerven geht. Der Spagat zwischen Job und (unbetreuten) Kindern kann schwierig sein. Aus Angst, die Arbeit nicht gut genug zu machen, wird vermehrt nachts gearbeitet, was sich auf Dauer wiederum auf die psychische Belastungsfähigkeit auswirkt – mit allen Folgen davon. Ganz abgesehen davon, dass Chefs nicht immer in der Lage sind, ihre Mitarbeiter auch im Homeoffice motivierend und angemessen zu führen.
Wirtschaftliche Bedrohung
Wir haben uns seit Jahren an einen mehr oder weniger vorhandenen Wohlstand gewöhnt oder wenigstens an die Möglichkeit, diesen durch Lernen und Fleiß erreichen zu können. Auch dieses Fundament unserer Weltsicht wackelt gerade.
Menschen, die qualifizierte Jobs in jahrelang soliden Unternehmen ausüben, sehen sich plötzlich in Kurzarbeit. Wer künstlerisch gearbeitet hat, kann nicht mehr auftreten und der volle Kalender ist von einem Tag auf den anderen leer, die Einkünfte sind weg. Die Gastronomie hat dichtgemacht, kann allenfalls ausliefern oder To-go-Gerichte anbieten. Das Nachtleben liegt komplett am Boden.
Unternehmer, die gut gewirtschaftet haben, verlieren weiter Aufträge oder erhalten keine Ware mehr, sodass sie ihre Produktion stoppen müssen. Rücklagen schmelzen. Die Zukunft so manches Unternehmens steht auf der Kippe. Eigeninitiative hilft da nur wenig und kann die gesamtwirtschaftliche Entwicklung nicht beeinflussen.
Bedrohung der Berufsaussichten von jungen Menschen
440 000 junge Menschen haben 2018 in Deutschland das Abitur gemacht. Ähnlich viele dürften das für 2020 geplant haben. Dazu kommen etwa 1,33 Millionen Auszubildende, die ganz unterschiedliche Prüfungen ablegen. Schüler in unterschiedlichen Klassen verpassen Unterricht und nicht alle dieser jungen Menschen sind gut darin, selbstständig und kontinuierlich zu Hause zu arbeiten. Das liegt einerseits an unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten und an ihrem Alter, andererseits aber auch an den ganz unterschiedlichen Gegebenheiten in ihren Elternhäusern. Ob es dort einen geschützten Raum gibt und die Eltern oder ältere Geschwister bei kniffligen Fragen helfen können oder ob die Unterlagen auf dem Küchentisch liegen, während nebenan der Fernseher läuft, macht einen meilenweiten Unterschied, wenn es darum geht, dass sich das Potenzial jedes einzelnen Kindes entfaltet. Bildungsungerechtigkeit nimmt damit zu.
Auszubildende und Studierende müssen mit der Situation umgehen, dass sie sich auf Prüfungen vorbereiten, von denen sie gar nicht genau wissen, ob und wann genau sie stattfinden werden. Noch dazu sehen manche Auszubildenden ihre Lehrstelle in Gefahr, weil ihr Betrieb plötzlich in wirtschaftliche Schieflage geraten ist und sie nicht wissen, ob sie ihre Ausbildung überhaupt abschließen können.
Gleichzeitig ist im Augenblick noch vollkommen unklar, wie sich berufliche Chancen in verschiedenen Bereichen entwickeln werden. Dass Pflege wichtig bleiben wird, scheint klar. Auch IT-Spezialisten werden weiterhin gesucht sein. Was aber ist mit Marketing und Grafikdesign? Wie werden sich die Berufsaussichten für Friseure oder Architekten verändern? Wird es, während schon jetzt viele Gastronomiebetriebe aufgeben, noch gute Berufschancen für Köche geben? Und was ist mit der Sportpsychologie? Werden Vereine und Verbände dafür noch Budgets haben und wie sieht das in den folgenden Jahren aus? Wie sinnvoll ist es überhaupt, weiterhin auf diesen Master zu lernen? Und wie sinnvoll, eine Karriere als Sportler anzustreben, wenn im Augenblick viele Sponsoren ihr finanzielles Engagement zurückziehen? Was ist mit Kunst? Genau diese Fragen stellen sich im Moment unzählige junge Menschen, ohne dass es jetzt schon klare Kriterien gäbe, nach denen Antworten zu finden wären.
Freundschaften verändern sich und alte Weltbilder halten der Realität nicht mehr stand
Schon jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, am 15. April, also nach gerade vier Wochen nach Eintritt der Maßnahmen zur Eindämmung des Virus mit verschiedenen Formen der Kontaktsperren und beruflichen Einschränkungen, erlebe ich überall um mich herum, wie sich Freundschaften verändern. Unterschiedliche Meinungen hinsichtlich des Sinns oder Unsinns verschiedener Verordnungen führen teilweise zu heftigen Auseinandersetzungen in Freundes- und Bekanntenkreisen und Menschen sind zutiefst von anderen Menschen entsetzt oder enttäuscht, die sie bisher zu ihren nahen Vertrauten gezählt haben. Ein Nachbar kann nicht fassen, dass der andere Freunde zum Grillen eingeladen hat. Dieser nicht, dass jener deswegen die Polizei ruft. Eine jahrelang gute Nachbarschaft wird innerhalb eines Tages zu einer erbitterten Feindschaft.
Auf der anderen Seite finden auf einmal Menschen zusammen, die sich bisher nicht einmal gegrüßt haben. Der tätowierte fremdländisch aussehende Typ, dem die alte Dame im Erdgeschoss immer furchtsam aus dem Weg gegangen ist und über den sie sich in Telefonaten mit ihrer besten Freundin so manches Mal abfällig geäußert hat, kauft plötzlich für sie ein und fragt, was er für sie tun kann. Ihr bisheriges Weltbild bricht zusammen, ihre Identität gerät in eine Krise, während sie gleichzeitig einen neuen Menschen gewinnt. Auch das ist ein schmerzhafter Prozess.
Paare, die in einer Fernbeziehung leben, können sich häufig über lange Zeit nicht treffen. Liegt eine Grenze zwischen beiden Partnern, kommunizieren sie womöglich bereits über Wochen nur noch übers Telefon oder Internet. Nähe und gegenseitige praktische Unterstützung sind nicht mehr da, die intensiven Veränderungen, die gerade jeder der Partner durchmacht, können nicht direkt geteilt werden. Auch Partnerschaften, die vorher stabil waren, können sich dadurch stark verändern.
Während Elternteile, die im Ausland arbeiten, über Wochen nicht zu ihren Familien können, sitzen andere Paare, die das nicht gewohnt sind, plötzlich rund um die Uhr aufeinander, vielleicht sogar in einer sehr kleinen Wohnung, in der sie sich nicht einmal vorübergehend aus dem Weg gehen können. Was für manche beglückend sein kann, führt bei anderen zu Reibereien und Konflikten. So oder so müssen Paare sich intensiver auseinandersetzen oder finden. Die Krise verändert Partnerschaften und fordert sie heraus.
Menschen sterben anders, Abschied ist schwer
932 272 Menschen sind laut dem Statistischen Bundesamt 2017 in Deutschland gestorben. Bei etwa gleichbleibenden Zahlen wären das heute im Schnitt 2500 Menschen pro Tag. Einige davon sterben an Covid-19, die meisten an anderen Ursachen.
Verluste sind die häufigsten Auslöser für Krisen. Was in der aktuellen Krise aber besonders schwer wiegt, ist, dass vieles, was das Abschiednehmen und das Trauern einfacher macht, oft gerade nicht möglich ist.
Die meisten Menschen wünschen sich, im Kreis der Menschen zu sterben, die sie lieben. In Wirklichkeit stirbt aber jeder zweite Mensch im Krankenhaus. Durch die aktuellen Einschränkungen ist dabei in den meisten Häusern die Begleitung von Angehörigen nicht erlaubt – und zwar unabhängig davon, ob jemand einer Covid-19-Infektion erliegt oder nach einem Schlaganfall oder einem Unfall ins Krankenhaus kam.
Menschen können sich nicht voneinander verabschieden, letzte Wünsche werden nicht mehr geäußert, versöhnende Worte am Sterbebett sind nicht mehr möglich. Das macht die Verarbeitung eines Verlustes noch schwerer. Und erschwert Sterbenden das Loslassen. Diese Verluste sind vergleichbar damit, was bisher geschehen ist, wenn jemand völlig unerwartet durch einen Unfall oder durch Suizid aus dem Leben gegangen ist.
Politische Umwälzungen