INFO: Der Begriff »Krise«
Das Wort »Krise« leitet sich aus dem Altgriechischen ab. Dort bedeutete das Substantiv κρίσις (krísis) im Ursprung Meinung, Beurteilung oder Entscheidung. Darin zeigt sich bereits der trennende und unterscheidende Charakter der Krise, der später immer mehr im Zusammenhang mit einer Zuspitzung verwendet wird.
Im Deutschen taucht das lateinische Wort »crisis« ab dem 16. Jahrhundert in medizinischen Zusammenhängen auf. Als crisis wird der Moment einer Infektion bezeichnet, in der das Fieber am höchsten ist. Bei einem unglücklichen Verlauf stirbt der Patient im Anschluss an die crisis. Bei einem glücklichen Verlauf sinkt danach das Fieber stark ab und der Patient kann genesen.
In diesem Zusammenhang wird der existenzielle Aspekt der Krise klar sichtbar. Sie ist nicht nur ein Wendepunkt: In ihr entscheidet sich auch, wie und ob das Leben überhaupt weitergeht. Sie ist der Entscheidungspunkt und bei dieser Entscheidung geht es immer um etwas Grundlegendes. Außerdem gibt es ein klares Vorher und ein klares Nachher. Gefühlt geht es dabei fast immer um Leben und Tod – und manchmal, bei einer schweren Krankheit zum Beispiel, geht es auch wirklich darum. Krisen treffen uns ins Mark.
Wir verwenden heute den Begriff der Krise für alle existenziellen Momente, in denen sich das Leben von einem Zustand in einen ganz neuen verändert. Sagt also jemand beim Vorbereiten einer Gartenparty: »Ich kriege die Krise«, wenn plötzlich schwere Gewitterwolken heranziehen und unklar ist, ob die Party ins Wasser fällt, mag das in diesem Moment zwar belastend sein. Im Sinn der Definition ist das aber keine Krise. In einer Krise geht es immer ums Ganze.
Es geht um alles
Krisen sind Situationen, die nicht nur schwer sind, sondern in denen alles auf dem Spiel steht und sich alles zuspitzt. Krisen sind zudem immer von einer extremen Spannung begleitet. Innerhalb kürzester Zeit verändert sich, was wichtig ist, und Dinge, für die wir vielleicht jahrelang gekämpft haben, spielen plötzlich keine Rolle mehr.
In der Regel sind Krisen zeitlich sehr begrenzt, auch wenn die Zuspitzung manchmal bereits lange vorher begonnen hat. Bei politischen Krisen lässt sich im Nachhinein häufig gut erkennen, wann der Wendepunkt hin zur Krise war. Auch in Partnerschaften gibt es oft einen solchen Moment. Doch den Beteiligten ist oft nicht bewusst, dass sich die Situation mehr und mehr zuspitzt, weshalb sie die Entwicklung manchmal lange gar nicht bemerken. Die Krise dagegen spüren sie mit voller Wucht. Wenn sie erst einmal da ist, lässt sie sich nicht mehr wegreden. Alle Zeichen stehen plötzlich auf Alarm. Die Krise dominiert dann das gesamte Leben. Die Zuspitzung hat ihren höchsten Punkt erreicht, alles steht auf der Kippe und man hat keine Ahnung, wohin sich das Leben entwickeln wird.
In der Krise hast du keine Kontrolle mehr
Wir alle suchen nach Sicherheit und im Optimalfall verfügen wir über die tiefe innere Überzeugung, dass wir, was auch immer passiert, damit klarkommen – selbst wenn es das Schlimmste ist. Allerdingsbesitzen diese tiefe innere Sicherheit nur wenige Menschen. Die meisten versuchen sich das Gefühl von Sicherheit durch die Illusion zu verschaffen, sie hätten ihr Leben und die Umstände unter Kontrolle. Verlieren diese Menschen das Gefühl von Sicherheit, zum Beispiel weil sie sich auf jemand oder etwas Falsches eingelassen oder etwas getan haben, das nicht klappt, versuchen sie noch mehr, die äußere Kontrolle zurückzuerlangen. Das ist der Grund, weshalb Menschen ihren Partnern nachspionieren und heimlich deren WhatsApp-Nachrichten lesen. Es ist auch der Grund, wieso die einen mehrmals überprüfen, ob sie den Herd ausgestellt haben, und die anderen einen Text wieder und wieder durchlesen, obwohl schon lang kein einziger Rechtschreibfehler mehr darin zu finden ist. Und es ist der Grund, warum einige Arbeitgeber ihre Mitarbeiter übermäßig kontrollieren, selbst wenn diese ihre Zuverlässigkeit und Loyalität schon seit Jahren bewiesen haben. Wer sich nicht sicher fühlt, kontrolliert. Manchmal kehrt dadurch das Gefühl von Sicherheit zurück – manchmal auch nicht. Doch spätestens in der Krise ist klar: Die Kontrolle ist weg – und wenn man sich auf den Kopf stellt. Was verloren ist, kann nicht zurückgewonnen werden. Es ist ein für alle Mal futsch! Der Partner ist weg, die blendende Gesundheit verloren, die Existenz vernichtet. Es gibt keine äußere Sicherheit mehr. Stattdessen braucht es ganz neue Fähigkeiten, Kreativität, Mut und vor allem eine innere Sicherheit, die in unsicherer Situation die innere Stabilität zurückbringt.
Die Krise ist schmerzhaft
Krisen bringen uns an die Grenze unserer emotionalen Belastbarkeit. Sie sind immer extrem schmerzhaft. Anders gesagt:Wenn es nicht richtig wehtut, ist es keine Krise.
Das ist auch der Grund, warum so viele Menschen bereit sind, fast alles zu tun, um Krisen zu vermeiden. Die dafür am häufigsten genutzte psychologische Strategie ist die Verdrängung: Man macht sich so lange wie möglich vor, dass alles gut ist. Manchmal geht das so weit, dass man sogar das Offensichtlichste nicht sieht und sich einredet, dass das, was man sieht, nicht wahr sei. Dass man es sofort wieder vergisst und auch nicht nachforscht – ganz im Gegenteil. Oder dass man es zwar sieht, sich aber einredet, alles hätte einen ganz anderen Hintergrund – einen guten. So wägt man sich weiterhin in Sicherheit.
Es gibt Menschen, und zwar nicht wenige, die jahrelang nicht mitbekommen, dass ihr Partner ein Doppelleben führt. Nicht, weil es keine Hinweise dafür gäbe – die gibt es immer! Sondern weil sie diese übersehen und ihr Unbewusstes sie mit allen Mitteln vor der schmerzhaften Wahrheit (und den vielleicht notwendigen Erkenntnissen und Konsequenzen) zu beschützen versucht. Das geht häufig sogar so weit, dass der Kontakt zu warnenden Freunden abgebrochen wird, bevor diese zu überzeugend werden und das mit Mühe verteidigte rosarote Weltbild ins Wanken bringen.
Andere merken lange nicht, dass sie weit über ihre Verhältnisse leben. Sie finden immer wieder neue Möglichkeiten, sich selbst und den Menschen in ihrer Umgebung vorzumachen, dass alles im grünen Bereich sei. Bis das Kartenhaus irgendwann in sich zusammenbricht.
Auch Süchtige sind Weltmeister darin, sich ihr Weltbild rosarot zu malen. Selten sehen sie die wahrscheinlichen Konsequenzen ihres Verhaltens so klar, wie sie es sind. Das ist der Grund, warum viele den Punkt verpassen, an dem es möglich wäre, das Rad noch zurückzudrehen. Und dann gibt es noch diejenigen Menschen, die Zeichen einer körperlichen Schwäche oder Krankheit lange übersehen. Die Liste ließe sich noch schier unendlich fortsetzen.
Neben den verschiedenen Ausprägungen von Verdrängung ist Gewalt ein Versuch, sich anbahnende Krisen zu verhindern: Man spürt, dass man die Kontrolle verliert oder die Dinge sich nicht wie gewollt entwickeln, und versucht sie daraufhin zu erzwingen, durch Drohungen, Druck, Erpressung (auch moralische) oder körperliche Gewalt. In den schlimmsten Fällen hören oder lesen wir davon als »Familientragödie« in den Medien.
Es liegt auf der Hand, dass weder Verdrängung noch Gewalt langfristig erfolgreich sind. Früher oder später kommt die Wahrheit ans Licht, das Kartenhaus fällt in sich zusammen und es ist nichts mehr da, das man kontrollieren könnte. Je später das passiert, umso schmerzhafter und weitreichender ist auch die Krise.
Wie lange dauert die Krise?
Der Moment der Entscheidung, in dem das Leben eine neue Richtung nimmt und das Alte verloren ist, dauert manchmal nur wenige Momente – zum Beispiel wenn man mit einer gravierenden medizinischen Diagnose konfrontiert wird, mit einem Todesfall oder mit der Nachricht, dass der Partner oder die Partnerin einen verlässt. Trotzdem erleben ganz viele Menschen eine Krise als lang. Das liegt daran, dass sich die Dinge vorher oft schon eine Weile zuspitzen. Es kann im Vorfeld viele Versuche geben, eine Krise zu verhindern. Auch wenn sie sich im Nachhinein als erfolglos herausstellen,