Wenn die Krise, also der Punkt, an dem alles kippt, aber irgendwann da ist, geht es ganz schnell. Dann ist klar: Das Leben nimmt jetzt eine andere, eine ganz neue Richtung.
Was macht gerade die Corona-Krise so besonders?
Die meisten Krisen betreffen einen bestimmten Lebensbereich: Die Kinder ziehen aus oder brechen den Kontakt zu den Eltern ab. Jemand stirbt und ist nicht mehr da. Der Job geht verloren oder die Firma ist pleite. Ein Finanzberater stellt sich als Betrüger heraus und das Vermögen ist weg. Eine lebensgefährliche Diagnose stellt das ganze Leben auf den Kopf. Eine Gesellschaftsordnung verändert sich durch eine politische Umwälzung. Während schon diese Krisen Menschen zuverlässig an ihre Grenzen bringen, betrifft die aktuelle Krise durch das Corona-Virus gleich mehrere Lebensbereiche und für manche Menschen sogar alle auf einmal.
Gesundheitliche Bedrohung
Da ist zum einen die gesundheitliche Bedrohung durch Covid-19. Das Wissen, dass sich eine Krankheit verbreitet, an der man selbst oder geliebte Menschen, zum Beispiel die eigenen Eltern, oder ein asthmakrankes Kind sterben könnten, konfrontiert mit dem Tod und der Tatsache, dass wir alle, die wir lieben, eines Tages verlieren werden – und natürlich auch damit, dass wir selbst nicht unsterblich sind.
Natürlich wissen wir alle, dass der Tod zum Leben dazugehört. Für die meisten von uns ist dieses Wissen aber wirklich rein theoretisch. Es wird nicht gefühlt und erst recht nicht bewusst mit dem täglichen Handeln verknüpft. Bricht das Bewusstwerden des Sterbens so plötzlich wie jetzt gerade als Teil des konkret Möglichen in den Alltag, löst das in der Regel erst einmal massive Ängste aus. Denn die wenigsten Menschen sind auf das Sterben vorbereitet, genauso wenig wie darauf, einen nahestehenden Menschen zu verlieren – selbst wenn dieser Mensch schon alt und vielleicht auch schon gebrechlich oder krank ist, sodass eigentlich klar sein sollte, dass er nur noch für eine begrenzte Zeit da sein wird.
Aber nicht nur Covid-19 ist für die Gesundheit der Menschen eine Gefahr. Was tun, wenn man heutzutage Symptome verspürt, die diejenigen eines Herzinfarkts sein könnten? Ruft man dann sofort den Krankenwagen oder wartet man lieber ab, ob es nicht doch wieder besser wird und sich alles als falscher Alarm herausstellt?
In solchen akuten gesundheitlichen Notsituationen treffen Menschen gerade zunehmend Fehlentscheidungen, und das aus ganz unterschiedlichen Motivationen: Die einen wollen jenen, die schwerer erkrankt sind, keine Betten wegnehmen. Andere fürchten sich vor einer Ansteckung durch das Virus, wenn sie ins Krankenhaus müssen. Wieder andere möchten bei ihrer Familie sein und haben berechtigte Angst, im Krankenhaus allein zu bleiben, weil niemand sie besuchen darf.
All das hat allein im April 2020 dazu geführt, dass Notrufe wegen Verdachts auf einen Herzinfarkt um 40 Prozent zurückgegangen sind und entsprechend weniger Diagnosen gestellt wurden. Das bedeutet aber nicht, dass es plötzlich weniger Infarkte gibt. Wahrscheinlich sind einige unentdeckt geblieben und wurden beziehungsweise werden daher nicht medizinisch behandelt. Menschen reagieren also in akuten Notfallsituationen häufig nicht oder zu spät.
Andere medizinische Untersuchungen oder Eingriffe werden auf irgendwann verschoben. Wenn das die Behandlung von Warzen betrifft, ist es nicht weiter dramatisch. Anders sieht die Situation nach einer Krebsdiagnose aus, wenn eine geratene Operation nicht durchgeführt wird, damit es im Krankenhaus oder bei der darauffolgenden Chemotherapie bei geschwächter Immunlage nicht zu einer Ansteckung mit Covid-19 kommt.
Zu wissen, dass der Krebs möglicherweise weiterwächst, während unklar ist, wie lange die aktuelle Situation noch andauert, ob es sich um Tage, Wochen oder Monate handelt, bis die Operation durchgeführt wird, ist für die Betroffenen massiv belastend und in Deutschland, wo es in Notfällen eine gute gesundheitliche Versorgung gab, vollkommen unerwartet.
Und es geht noch weiter: Kinder, die wegen unaufschiebbarer Behandlungen ins Krankenhaus müssen, müssen in manchen Häusern ohne den Besuch ihrer Eltern auskommen. Sie geraten dadurch ebenfalls in Krisen, selbst wenn ihre Eltern es sonst gut verstanden haben, die vielfältigen Informationen über die Corona-Krise etwas von ihnen fernzuhalten.
Gebärende dürfen sich in manchen Krankenhäusern nicht von ihren Partnern begleiten lassen.
Gewalt
Durch blank liegende Nerven kann Aggression schnell zunehmen, gerade innerhalb von Familien. Die Gefahr von körperlichen Verletzungen durch häusliche Gewalt steigt und genauso die Gefahr von posttraumatischen Belastungsstörungen, die dann meistens später zu weiteren Krisen führen. Die Leidtragenden sind in der Regel die Schwächeren, also Kinder oder Frauen. Schon jetzt berichten Frauenhäuser, dass sie an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Dabei müssen wir davon ausgehen, dass die meisten Fälle häuslicher Gewalt wie schon bisher im Dunkeln bleiben.
Aber auch die verbale Gewalt nimmt zu, gerade in beengten Verhältnissen. Kinder erleben häufiger, dass ihre Eltern sich heftig streiten oder sie anschreien. Nicht selten geraten dadurch ganze Familien in Krisen und Kinder erleben die bisher gefühlte häusliche Sicherheit und den Zusammenhalt in der Familie auf einmal als gefährdet.
Belastung im Beruf
Berufliche Anforderungen steigen gerade extrem an und bringen Menschen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Ganz besonders gilt das für alle Menschen, die bei der Arbeit in direkten Kontakt mit erkrankten Menschen kommen. Dazu zählen natürlich vor allem die Menschen in den Krankenhäusern oder im Rettungsdienst, Menschen, die kranke Menschen pflegen, versorgen, reanimieren oder beim Sterben begleiten. Sie stehen nicht nur ganz praktisch neuen Herausforderungen gegenüber, weil sie manchmal aus medizinischen Fachbereichen abgezogen wurden, in denen sie mit Notfallmedizin nichts zu tun hatten, und nun im Notfallmodus lernen müssen, wie man beatmet und sich schützt. Sie müssen häufig auch länger arbeiten – mit kurzen Pausen und wenig Erholung. Dazu kommt die Herausforderung, Bilder und Erlebnisse zu verarbeiten, die sie bisher noch nicht erlebt haben und auf die sie sich auch nicht vorbereiten konnten. Arbeit in Schutzanzügen, sterbende Patienten auf ganz unterschiedlichen Stationen, die nicht von ihren Angehörigen begleitet werden können und dadurch in eine große Not geraten, die Pflegekräfte nicht lindern können.
Auch in der Altenpflege ist durch die massiven Kontaktbeschränkungen eine neue Situation entstanden. Eine Pflegerin sagte mir kürzlich: »Erklären Sie mal einem dementen Menschen, dass er Ihnen nicht nah kommen darf, wenn er das immer gewohnt war.« Ja, wie soll das gehen, ohne dass man heftiger reagiert, als das diesem Menschen guttäte? Und natürlich vermissen die Menschen in Heimen und Pflegeeinrichtungen den Besuch, der häufig der Höhepunkt des Lebens war und nicht selten auch dessen noch verbleibender Sinn. Manche verstehen nicht, warum die Tochter oder der Sohn nicht mehr kommt, und denken, sie/er sei tot. Diese Umstände induzieren bei Senioren oder zu Pflegenden zusätzliche massive Krisen – und häufig auch bei ihren Angehörigen.
Erzieherinnen und Erzieher sollen Kindern in der Notfallbetreuung nicht mehr körperlich nah kommen. »Mach das mal, wenn ein Kind sich das Knie aufgeschlagen hat«, sagt eine von ihnen. Unser Herz spricht klar für ein In-den-Arm-Nehmen und Trösten. Aber es ist nicht erlaubt. Der Tag ist voll von solchen Konflikten, ein normales und menschlich entspanntes Arbeiten ist nicht möglich.
Polizeikräfte rechnen mit Unruhen und haben Anweisung, diese frühzeitig im Keim zu ersticken. Jedoch, wie soll das gehen? Einerseits sollen auch sie anderen Menschen nicht nahekommen, gleichzeitig sind viele Anweisungen unklar. Darf nun ein Pärchen auf der Parkbank knutschen oder nicht? Man muss kontrollieren, ob beide zusammenwohnen oder nicht. Und was, wenn zwei Menschen mit großem Abstand auf der gleichen Bank sitzen? Täglich ändern sich Regelungen und nicht jeder Polizist ist mit ihnen einverstanden. Vermehrt liegt an verschiedenen Orten Unruhe in der Luft, die auch bei Einsatzkräften immer stärker spürbar wird.
In Supermärkten kochen immer wieder Emotionen hoch, Menschen geraten wegen des richtigen Abstands zueinander in Konflikt, andere verhalten sich panisch, wieder