In all den Jahren. Barbara Leciejewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Barbara Leciejewski
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783862823727
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München zurückkam, stand ein kleiner Umzugswagen vor unserem Eingang. Zwei Männer packten, von S. Schulze dirigiert, Kisten hinein. Zog sie aus?

      „Hallo, Frau Schulze“, sagte ich und beachtete diesmal ihre hektische Betriebsamkeit nicht. „Ziehen Sie um?“

      „Tja“, sagte sie schnippisch. „Wenn der Vermieter Eigenbedarf anmeldet, kann man nichts machen.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und weg war sie. Ich folgte ihr ins Haus. Oben angekommen warf ich einen Blick durch die offene Tür der Nachbarwohnung. Da waren doch auch noch Finns Sachen drin. Was passierte denn mit denen, wenn der Eigentümer da einziehen wollte? Es gab mir einen Stich ins Herz. Jetzt würde also endgültig alles anders werden. Natürlich war Finn selbst schon längst nicht mehr da, aber zumindest seine Zeichensachen, sein Klavier, sein Holztisch, sein Bett, seine Bilder. Das würde jetzt alles auch verschwinden. Und dann war nichts mehr von ihm da.

      Ich ging in meine eigene Wohnung und suchte Trost bei Alfred.

      Merkwürdigerweise vertrieb dieses Ereignis mein Lampenfieber vor der Premiere. Ich konzentrierte mich noch mehr auf die Proben. Wäre Alfred nicht gewesen, ich wäre am liebsten vorerst gar nicht mehr nach München zurückgekehrt.

      Die Premiere war an einem Sonntag und am Samstag davor war Generalprobe. Ich beschloss zumindest an diesem Wochenende, von Freitag bis Sonntag, in Augsburg zu bleiben. Ich hatte David gebeten, sich um Alfred zu kümmern und ihm nicht nur Wasser zu geben, sondern auch mit ihm zu reden. Als Dank dafür schenkte ich ihm und Norbert Premierenkarten, die Karten, die ich eigentlich für meine Eltern reserviert hatte, aber die konnten nicht kommen. Was für eine Überraschung!

      Die beiden Andreasse dagegen wollten sich meine Premiere natürlich nicht entgehen lassen.

      Die Generalprobe lief wie eine Generalprobe laufen sollte: schlecht. Nun ja, vielleicht lief es noch etwas schlechter als erwünscht. Es gab fast keinen, der nicht irgendwann einen gewaltigen Texthänger gehabt hätte. Ein Umbau klappte nicht, obwohl das Bühnenbild nun wirklich nicht allzu aufwendig war. Es herrschte überall große und leider auch spürbare Nervosität.

      Mein Schlussmonolog klang wie heiße Luft, denn ich sah nur trübe Gesichter im Zuschauerraum, das gequälte unseres Regisseurs, Pavel Rainhard, das betretene seiner Assistentin und das zweifelnde des Intendanten. Verhaltener Applaus weniger Hände schickte uns in die Garderobe. Es war ernüchternd.

      Pavel rief uns im Theaterfoyer zu einer letzten Kritik zusammen.

      Wir warteten darauf, dass er uns zur Schnecke machen würde. Doch es kam anders.

      „Wir müssen nicht darüber reden, was heute alles schiefgelaufen ist“, sagte er, „das wisst ihr selber. Aber ich möchte euch etwas erzählen, das ich erlebt habe, vor …“, er rechnete nach, „vor acht Jahren. Es war in Berlin in der Theatermanufaktur am Halleschen Ufer. Man gab Die Rundköpfe und die Spitzköpfe von Brecht. Eine großartige Aufführung. Fantastische Schauspieler, eine witzige Inszenierung und ein ganz einfaches Bühnenbild. Mit anderen Worten, fast wie bei uns.“

      Er lächelte uns an und fuhr dann fort:

      „In einer Szene mussten die Schauspieler einen Wagen über die Bühne ziehen. Ein einfacher Holzleiterwagen. Plötzlich brach die Achse, der Wagen ließ sich nicht mehr bewegen. Und was taten die Schauspieler? Sie bauten es ein. Ich weiß bis heute nicht, ob der Wagen tatsächlich kaputtging oder ob es eine Sollbruchstelle gab und das Ganze ein reiner Verfremdungseffekt war. Aber egal, was es war, es war der beste Moment des Abends. Ihr spielt Brecht und was immer passiert, ändert nichts am Stück oder an eurem Spiel. Nehmt, was ihr kriegen könnt, um die Zuschauer zu begeistern, sogar das, was schiefläuft. Genießt den Tag morgen. Ihr seid großartig.“

      Mein Lampenfieber kehrte zurück, obwohl Pavel nichts hätte sagen können, das mich mehr motiviert und gleichzeitig beruhigt hätte. Aber Lampenfieber hatte nichts damit zu tun, ob man eigentlich beruhigt und vorbereitet war, ob man wusste, dass man gut war, ob man sich darauf freute, spielen zu dürfen. Es hatte mit gar nichts zu tun. Es war einfach da. Wie eine Krankheit, wie ein Pickel. Ich hatte keinen Hunger und gemeinsam mit Thomas, der ebenfalls wie ein Gespenst herumlief, zwang ich mich am Nachmittag, zumindest ein belegtes Brot in der Kantine zu essen. Danach ging ich noch kurz ins Hotel, versuchte das Kribbeln zu vertreiben, hatte das Gefühl, der Text wäre komplett weg, duschte, zog mich an, packte meine Premierenfeierklamotten ein, wünschte mir, ich sei tot oder nie geboren oder hätte etwas Vernünftiges gelernt, und begab mich zum Theater. So musste sich Marie Antoinette gefühlt haben, als man sie zur Guillotine führte.

      Als ich aus dem Fenster meiner Garderobe schaute, sah ich all die vielen Leute in feinen Kleidern, die sich ganz entspannt auf die Aufführung freuten. Wie ich sie beneidete!

      Es gab nicht viel für die Maskenbildnerin zu tun, nur meine Augen wurden so geschminkt, dass sie riesengroß wirkten, und auch die Garderobiere war praktisch arbeitslos, denn in die Latzhose, die ich trug, konnte ich problemlos selbst hineinschlüpfen. Um mich in Shui Ta zu verwandeln, brauchte ich nur ein Jackett, eine Brille und einen Hut dazu. All das war neben der Bühne platziert.

      Als ich mich im Spiegel betrachtete, fing mein Herz stärker an zu klopfen als je zuvor.

      Ich ging hinter die Bühne, wo ich Pavel und die anderen Darsteller traf. Wir bildeten einen großen Kreis, fassten uns alle an den Händen und konzentrierten uns ein paar Sekunden lang stumm. Dann sagte Pavel: „Und jetzt:“ Und wir alle sagten es: „Toi, toi, toi!“ Die magischen Worte. Ich fühlte ihre Kraft und nahm sie in mich auf. Jetzt war ich bereit.

      Das Publikum war auf seinen Plätzen, das Licht im Saal ging aus und die Bühne wurde nur spärlich beleuchtet. Thomas betrat die Szene.

      „Ich bin Wasserverkäufer hier in der Hauptstadt von Sezuan.“

      Es hatte begonnen.

      Die Götter kamen hinzu und suchten Unterschlupf und schließlich sagte Thomas als Wang die Worte, die mein Herz für einen kurzen Moment zum Aussetzen brachten: „Jetzt bleibt nur noch die Prostituierte Shen Te, die kann nicht nein sagen.“

      Er rief „Shen Te!“ und Shen Te betrat zum ersten Mal die Bühne.

      Nicht ich, sondern sie. Elsa war vergessen. Ich war Shen Te und dann war ich irgendwann Shui Ta, ich wollte ein guter Mensch sein und konnte es nicht. Ich war zerrissen in zwei Gestalten und keine davon trug den Namen Elsa. Und dann und wann war ich, wie der Dichter es verlangte, die Schauspielerin, die an der Natur ihres Spiels keinen Zweifel ließ. Wenn ich auf offener Bühne mein Haar zusammenband und mir den Hut aufsetzte. Wenn ich zwischendurch mit dem Publikum kokettierte und nach den Liedern auf Beifall wartete und mich verbeugte. Und natürlich am Schluss. Noch während ich meinen Monolog sprach, ging im Saal das Licht langsam an, wurde das Bühnenbild abgebaut und kamen die anderen Schauspieler, als würden sie zum Publikum gehören, und hörten mir zu.

      Und trotzdem konnte ich die Spannung im Saal spüren, die ich allein mit meinen Worten hielt und die sich, als ich schließlich endete, in tosendem Applaus entlud.

      Ich blieb stehen und die anderen gesellten sich in einer Reihe zu mir. Wir verbeugten uns wieder und wieder. Dann ging der Vorhang zu und der Einzelapplaus folgte, wobei ich als Letzte durch den Vorhang trat. Als ich das tat, glaubte ich, die Wand aus Beifall und Bravos würde mich umhauen. Ich vergaß für einen Moment, dass ich mich verbeugen sollte, und verwandelte mich in die unsichere Elsa zurück, die nicht fassen konnte, dass all das nur ihr galt. Das Publikum war so begeistert, dass es gar nicht gehen wollte und wir uns immer wieder verbeugen mussten, und jedes Mal, wenn ich vortrat, erhöhte sich der Geräuschpegel noch um ein Vielfaches.

      Diesen Augenblick hätte ich für immer festhalten wollen und wäre dafür jeden Teufelspakt eingegangen.

      Schließlich war es doch zu Ende. Der letzte Vorhang fiel. Auf dem Weg zur Garderobe warteten die ersten Gratulanten. Pavel umarmte mich und war fast zu Tränen gerührt. Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte er sich vorstellen können, dass es so gut wird, sagte er. Gut ja, aber so gut, so unglaublich, wahnsinnig gut. Auch die anderen Schauspieler gratulierten mir und versicherten mir immer wieder, wie großartig ich war. Als ich dann allein in meiner