»Halt dir einfach die Nase zu. Komm schon.«
Drinnen benahmen sich auch alle seltsam. Neben dem Kühlregal lehnte eine Frau in piekfeiner Kleidung und kippte sich gerade Milch über die Cornflakes in ihrer bloßen Hand. Sie kaute und sah mich an, als wäre sie selbst unsicher, ob das, was sie tat, sich so gehörte. Dabei mischte sich ihr knallroter Lippenstift mit der Milch und landete zur Hälfte auf ihrer weißen Bluse. Ratlos wischte sie sich die verklebten Hände an ihrem schwarzen Rock ab. Dann ging sie zum nächsten Regal.
Benno kicherte, doch mir wurde das alles allmählich zu bunt. Schnell griff ich mir ebenfalls ein Päckchen Milch, suchte das Regal mit dem Knäckebrot und machte mich mit Benno auf in Richtung Kasse. Nicht, dass wir uns noch hinter der Verrückten anstellen mussten!
Das mussten wir nicht, dafür baute unsere Kassiererin mit dem Geld in ihrer Kasse Türmchen auf das Fließband.
»Entschuldigen Sie«, fragte ich vorsichtig. »Kann ich bitte meinen Einkauf bezahlen?«
»Woher soll ich denn wissen, was du kannst und was nicht?«, pflaumte mich die Frau an.
Für einen Moment war ich völlig ratlos, dann legte ich schnell das Geld für Milch und Brot neben die Geldtürmchen und zog Benno mit nach draußen.
Es war einfach unfassbar, was da gerade passierte. Das Verhalten meiner Eltern, die Geschichten beim Bäcker und jetzt der Supermarkt. Das konnte doch alles kein Zufall sein.
Ich wusste nur eins mit absoluter Sicherheit: Wir mussten so schnell wie möglich nach Hause!
17. Kapitel
Zurück zu Hause schallte aus dem Wohnzimmer irgendeine Oldieplatte, zu der Pa lauthals mitsang. Wenigstens war das nichts Ungewöhnliches und es klang zum Glück auch genauso schief wie immer.
»Wir sind wieder da!«, rief ich ihm zu und wartete vergeblich auf eine Antwort. Also ging ich in die Küche, um unseren übersichtlichen Einkauf wegzuräumen.
Benno kam hinterher und ging dann weiter Richtung Mas Arbeitszimmer, das hinter der Küche lag. Vorsichtig schob er seinen Kopf zu ihr hinein. »Hallo?«
»Ach, da seid ihr ja! Ich hab euch schon im ganzen Haus gesucht. Habt ihr vielleicht … Ich finde meinen Ring nicht mehr. Der hatte, glaube ich, einen grünen Edelstein. Habt ihr ihn irgendwo gesehen?«
Ich ging zu Ma hinüber, nachdem ich die Einkäufe eingeräumt hatte. »Du meinst den, den du von Oma geerbt hast?«
Ma drehte sich zu mir um. »Hab ich das? Ich kann mich gar nicht mehr erinnern.«
Oh nein! Nicht Ma auch noch.
Ihr Ring war einer ihrer wenigen Schätze. Das Familienerbstück, an dem sie hing wie sonst an wenigen Dingen. Ich hatte Oma nicht mehr kennengelernt, sie war schon vor meiner Geburt gestorben. Aber Ma trauerte manchmal noch um sie. Diesen Ring mit dem grünen Stein nahm Ma nie ab, außer sie tat etwas, bei dem er zerkratzt werden konnte.
»Übrigens ist dieser Mann … wie heißt der noch gleich?«, Ma suchte nach den Worten, die sie ebenfalls verloren zu haben schien. »Na ja, er ist vorbeigekommen und hat gefragt – Mist, wie hieß der denn noch mal?! – Also … Habt ihr meinen Ring irgendwo gesehen?«
»Wer war da?«, versuchte ich, mich durch das Wortwirrwarr zu wühlen.
»Dieser Mann … der … der sich so für Blumen interessiert.«
Ich verstand nur Bahnhof.
»Der blöde Glashausmann?«, fragte Benno. »Willem?«
In Mas Augen blitzte die Erinnerung auf. »Ja, genau der!«
»Willem Boer? Wieso war der denn hier?« Die Gänsehaut auf meinen Armen war wieder zurück. »Hast du ihn etwa eingeladen?«
Ma schüttelte unschlüssig den Kopf. »Er wollte wissen, ob bei uns alles in Ordnung ist. Mir kam das etwas … wie sagt man dazu? Also … nein, ich hab nicht ganz verstanden, was er wollte. Aber er hat hier so … äh … neugierig war der … hat rumgeschaut, das hat mir nicht gefallen.«
Das war nicht gut. Es war schon gruselig genug, dass dieser Willem um unser Haus schlich und rumspionierte. Aber in unserem Haus hatte er wirklich nichts zu suchen. Mir fiel plötzlich wieder ein, dass ich den Schlüssel zur Duftapotheke auf meinen Nachtisch gelegt hatte. Ohne ihn zu verstecken! Ich schimpfte in Gedanken mit mir selbst und beschloss, in Zukunft besser aufzupassen.
»Hast du ihm das Haus gezeigt?«, fragte ich und betete, dass Ma das nicht getan hatte.
»Welches Haus denn?«
»Unser Haus! Die Villa Evie. Das hier! Ma, warum bist du so durcheinander? Stimmt was nicht?«
»Wieso fragst du mich das jetzt auch noch? Was soll denn nicht stimmen?«
Ich kniff für einen Moment meine Augen zusammen. »Und? Hast du Willem Boer durch die Villa Evie geführt?«
Ma machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach was … ich hab doch gar keine Zeit für so etwas. Hast du vielleicht irgendwo …«, Ma drehte sich suchend im Zimmer um, »… meinen Ring gesehen?«
Ich atmete einmal tief ein und spürte, wie mein Pulsschlag langsamer wurde. Ich musste jetzt ruhig bleiben. Warum wollte Willem in die Villa Evie? Hatte er etwas mit dem komischen Zustand unserer Eltern und der anderen Bewohner der Stadt zu tun? Hatte Willem irgendwas mit ihnen gemacht? Aber was hätte er davon?
Mir fiel wieder ein, was Hanne gesagt hatte. In der Bank waren die Tresorräume dicht und niemand kam mehr an das Geld heran. War Willem auch daran schuld? Benutzte er vielleicht die Flakons aus der Duftapotheke dafür? Das könnte allerdings darauf hindeuten, dass Willem kein Gärtner, sondern ein Bankräuber war! Wobei … die Duftapotheke gab es ja bereits seit Jahrzehnten und Willem arbeitete hier auch schon ewig. Wieso sollte er erst jetzt die Bank ausrauben? Und wieso sollte er Ma und all die anderen Leute da mit reinziehen?
Irgendwas stimmte daran nicht.
Aus dem Wohnzimmer trällerte Pa zu einem seiner Lieblingslieder. Ma lauschte und ging dem Gesang nach. »Was sind das für grauenhafte Geräusche?« Empört blieb sie in der geöffneten Tür zum Wohnzimmer stehen und sah zu Pa, der sich seine Kopfhörer übergezogen hatte und lauthals mitsang.
»Entschuldigen Sie bitte!«, rief Ma ihm entgegen. »Was machen Sie da?«
»Das ist Papa!«, Benno zog an Mas Hand. »Der singt doch immer so.«
»Das ist euer Vater?« Sie sah uns völlig verwirrt an. »Ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, was dieser gut aussehende Mann da in meinem Wohnzimmer macht. Aber wenn ihr meint, dass das euer Vater ist, dann macht das ja Sinn.«
»Das ist Christian Alvenstein«, sagte ich angestrengt langsam. »Unser Vater und DEIN Ehemann!«
Ma drehte sich erschrocken zu mir um. »Ehemann?!«
Pa lag auf dem Sofa und hatte immer noch seine Kopfhörer auf. Mir wurde kalt, dann heiß und gleichzeitig übel. Es fühlte sich an, als drehte sich mein Magen um sich selbst.
»Papa!«, rief Benno und lief auf das Sofa zu. Ich sah, dass ihm eine Träne über die Backe rollte. In seinen Augen wartete die Hoffnung, dass Pa gleich alles wieder geraderücken würde. Dass das alles nur ein Missverständnis war oder ein ganz besonders dummer und blöder Witz unserer Eltern.
»Ma vergisst alles! Alle sind verrückt geworden!«
Pa schob sich die Kopfhörer von den Ohren und sah erst mich, Ma und dann Benno an.
»Na, mein Kleiner?« Er legte seine Stirn in Falten und strich Benno liebevoll über die Backe. »Was ist denn los?«
»Sag, dass alles in