Blablabla.
Gut gelaunt hängte sie ihren Mantel an den Haken.
»Ma!«, sagte ich und ließ meine Stimme so streng wie nur möglich klingen. »Dein kleiner Sohn hat Hunger!«
Benno guckte finster zu Ma hinauf, während sie ihn nur anlächelte.
»Dann iss doch einfach mal was, mein Kleiner!«, schlug Ma vor. Und schon rauschte sie in ihr Arbeitszimmer und verschwand.
Ich schloss langsam meinen Mund und sah zu Benno. Wäre Ma nicht Ma gewesen, hätte ich einen Lachanfall bekommen und geschworen, dass sie bluffte. Ich wäre zum Auto gegangen und hätte die Einkaufstüten mit den leckeren Sachen rausgeholt, die sie für uns eingekauft hatte. Aber diese Art Späße war nicht gerade Mas Spezialgebiet. Pa sagte immer, dafür konnte sie zu schlecht lügen.
Okay, ich musste ruhig bleiben. Ma war öfter gedankenverloren, daran gewöhnte man sich. Es gehörte zu ihr, dass sie oft nur halb zuhörte. Man sah es ihr meistens an, dass sie an etwas anderes dachte, während man mit ihr redete. Aber das war normalerweise harmlos. Ma liebte uns mit ihrer ganzen zerstreuten Art. Sie hätte uns nie hungrig uns selbst überlassen.
Pas Verhalten war noch besorgniserregender. Lehrer sind selten schusselig, die nehmen immer alles ziemlich genau. Sonst hätten sie sich bestimmt einen anderen Beruf ausgesucht. So war auch unser Pa, nur heute nicht.
Ich wickelte eine Haarsträhne um meinen Zeigefinger und versuchte zu verstehen, was los war. Und langsam bohrte sich mir das ungute Gefühl in den Bauch, dass etwas sehr Schlimmes passiert war …
16. Kapitel
Eilig öffnete ich die Schranktür der alten Küchenanrichte und zog das Glas mit den Notgroschen heraus. Pa deponierte in der Küche immer etwas Kleingeld für den Fall der Fälle. Und das hier war definitiv eine Situation, in der man einen Notgroschen brauchte.
Ich griff mir Bennos Hand und schlüpfte selbst in meine Turnschuhe. »Zieh dich an, wir beide gehen heute schick frühstücken.«
Ich wollte nicht, dass Benno spürte, dass ich mir langsam richtig Sorgen machte und unsere Eltern genauso wenig verstand wie er.
Die Sonne strahlte über den Vorgarten und die Luft roch nach Wärme. Neben Benno ging ich den Lavendelweg entlang Richtung Bäcker. Zwischen den schmalen Gehwegen bestand unsere Straße aus rund gefahrenen Pflastersteinen, über die nur hin und wieder mal ein Auto rumpelte.
Im Garten schräg gegenüber sonnte sich Frau Norman in ihrem Liegestuhl und schlürfte irgendein grelles Getränk durch einen Strohhalm. Bei ihrem ersten Besuch in der Villa Evie hatte sie immer wieder gesagt, dass Benno der niedlichste kleine Junge unserer Straße wäre, was natürlich dazu führte, dass Benno ihr jetzt freudestrahlend zuwinkte.
»Haaaallo!«
Aber Frau Norman schob sich bloß die Sonnenbrille ein Stück unter die Augen und sah Benno fragend an, als hätte sie ihn noch nie in ihrem ganzen Leben gesehen. Ohne zurückzulächeln, schob sie sich die schwarzen Brillengläser wieder ins Gesicht und lehnte sich nach hinten in ihren Liegestuhl.
Benno verzog sein Gesicht, aber ich warf ihm nur einen Blick zu, der bedeuten sollte: Keine Ahnung, was mit der los ist, aber es ist doch auch egal, und zog ihn weiter.
Spielten die Leute jetzt völlig verrückt?
Auch beim Bäcker wirkten alle um uns herum seltsam aufgedreht.
»Es ist wirklich nicht zu fassen!«, sagte eine rothaarige rundliche Frau, die vor uns an der Theke stand. »Können Sie sich das vorstellen? Da steige ich tagtäglich in den Bus Nummer neunundzwanzig ein, um zur Arbeit zu fahren, und was passiert? Der Busfahrer fährt einfach in die falsche Richtung! Ohne anzuhalten oder einen von uns aussteigen zu lassen! Er ist gefahren und gefahren und gefahren.«
»Nein!«, staunte der Mann neben ihr. »Hat ihn denn niemand darauf aufmerksam gemacht?«
»Doch, natürlich! Alle im Bus haben ihn gebeten, umzudrehen und die normale Route wieder aufzunehmen. Aber dieser Blödmann hat sich nichts sagen lassen und ist stur weitergefahren. Immer weiter! Erst fünf Ortschaften weiter hat er plötzlich auf einer Landstraße geparkt. Und zwar quer!«
»Das gibt’s nicht!« Die Bäckerin hinter der Theke schüttelte entsetzt den Kopf. »Aber wieso?«
»Das ist es ja!« Die Stimme der Frau wurde immer lauter. »Er hat spontan beschlossen, wandern zu gehen!« Sie holte tief Luft. »Er hat uns sogar gefragt, ob wir mitkommen wollen! Dann ist er ausgestiegen und in den Wald marschiert! Ist das zu fassen? Ich bin zwei Stunden in die Stadt zurückgelaufen!«
Die Erwachsenen plapperten aufgeregt durcheinander. Ein Mann erzählte sogar, wie sein Zahnarzt ihm heute Morgen fast die Zähne mit rotem Nagellack bepinselt hätte.
Bestimmt hätte ich darüber gelacht, wenn sich das ungute Gefühl in meinem Bauch nicht sofort wieder zu Wort gemeldet hätte.
Noch mehr Menschen, die auf einmal vergaßen, wer sie waren und was sie tun sollten. Was war hier nur los?
Der Geräuschpegel in dem kleinen Laden war so hoch, dass ich der Bäckerin meine Bestellung fast entgegenschreien musste, obwohl ich direkt vor ihr stand. Mit zwei dampfenden Tassen und Croissants setzten Benno und ich uns wenig später zwischen ein Pärchen und einen Mann im Anzug ans Schaufenster und schlürften heißen Kakao.
Ungläubig beobachtete ich, wie der Mann eine komplette Torte bestellte und sie Stück für Stück in sich hineinlöffelte. Rund, cremig und mit kleinen Schokoherzen darauf glänzte sie vor ihm.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte ich leise.
Der Mann drehte sich zu mir um. Seinen Teelöffel, mit dem er die Torte aß, hielt er beladen in der Luft. Er sah mich an, als würde er den Sinn meiner Frage nicht verstehen oder als wäre sie völlig daneben. Schließlich drehte er sich einfach wieder weg und schob sich den Löffel zwischen die Lippen.
Eine Gänsehaut zog sich über meinen Rücken.
Nachdem die Croissants und der Kakao in unseren Bäuchen verschwunden waren, ging ich zur Theke und bezahlte. Dann verließen Benno und ich die Bäckerei.
»Lass uns noch schnell im Supermarkt Milch und Brot kaufen, ja?«
Benno nickte. »Na gut, wenn es sein muss.«
Der Supermarkt lag ein paar Straßen weiter an einer Kreuzung und so stiefelten wir zusammen los. Benno lief mit seinem mit Kakao gefüllten Bauch voran. »Guck mal, ein Hund ohne Herrchen!«, rief er nach wenigen Metern laut.
Kurz erschrak ich mich, als auf einmal ein kräftiger sandfarbener Hund auf uns zukam und seine Leine hinter sich herschleifte. Er lief kreuz und quer die Straße entlang. Es dauerte ein bisschen, bis ich den grüngelben Wellensittich bemerkte, der ziellos über dem Hund herumflatterte. Neben mir blieb der Hund stehen und pinkelte an ein Kinderdreirad, das in einer Toreinfahrt lehnte. Sofort stürmte eine Mutter auf uns zu. Ich hob nur die Hände und versicherte ihr, dass der Hund mir nicht gehörte, und ging schnell mit Benno weiter.
Auf dem Parkplatz des Supermarkts standen die Autos kreuz und quer. Hinter uns hupte ein Laster, weil er nicht mehr durchkam. Ein Auto hatte genau vor der elektronischen Schiebetür des Supermarkts geparkt und die Autotür auch noch offen stehen lassen. Sie ragte halb in die Lichtschranke der Supermarkttür, sodass sie sich ständig aufund zuschob.
Eine Kassiererin brüllte bereits durch den gesamten Laden, wem bitte das Auto gehörte, aber niemand fühlte sich angesprochen.
Benno blieb am Eingang stehen und hielt sich die Nase zu. »Hier stinkt’s!«
Im Supermarkt roch