Benno saß mittlerweile im Schneidersitz auf dem Boden, stützte sein Gesicht in die Handflächen und nörgelte: »Ich merk gar nix!«
»Stimmt, ich auch nicht«, sagte ich und lehnte mich neben Mats gegen den Tresen. Eigentlich wollte ich alles weiter genau beobachten, aber mein Körper tat etwas anderes, als mein Kopf vorschlug. Hinter mir hörte ich das gleichmäßige Ticken des Sekundenzeigers langsamer und gleichzeitig lauter werden. Ich drehte mich zur Wanduhr um und beobachtete den Sekundenzeiger, der über der Zahl Vier hing.
Wie seltsam, er bewegte sich ja gar nicht mehr?
Ich wartete.
Nichts.
Ich begann zu zählen: »Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig«, aber der Sekundenzeiger blieb, wo er war.
Mats seufzte leise, ohne zu erklären, warum. Leider konnte ich mich nicht zu ihm umdrehen und nachfragen. Ich wollte auf keinen Fall den Moment verpassen, wenn dieser verdammte Sekundenzeiger sich endlich weiterbewegte.
Ticktack, machte es da und dann noch einmal Tick.
Ich verharrte in meiner Position, wartete auf ein neues Tack und starrte auf die Uhr.
Siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig …
»Ohhh Maaaaannn!«, maulte Benno. »Das ist dooooof hiiiier!«
Ich versuchte, die Unordnung in meinem Kopf zu verscheuchen und mich daran zu erinnern, dass ich etwas herausfinden wollte. »Die Zeit hängt fest. Merkt ihr das? Sie vergeht nicht richtig.«
Mats spähte zur Wanduhr. Dann zu mir. »Zählst du deshalb die ganze Zeit wie eine Irre leise vor dich hin? Ich hab mir schon Sorgen gemacht.«
Benno schlurfte zu uns rüber und setzte sich neben mich auf den Tresen. Wie immer ließ er die Beine baumeln. Langsamer als sonst, aber wenigstens baumelten sie wieder.
Nach einer gefühlten Ewigkeit nahm der Sekundenzeiger wieder Fahrt auf. Langsam begriff ich, dass der Langeweile-Duft sehr wohl wirkte, doch bevor ich diesen Gedanken richtig greifen konnte, quietschte plötzlich etwas hinter der Tür zur Duftapotheke.
Ich zuckte vor Schreck zusammen. Oh nein! Etwas knarrte, dann donnerten Schritte durch den Gang. Es war der Flur, der vom Gewächshaus in die Duftapotheke führte. Die Schritte wurden schneller und immer lauter.
»Weg hier!«, wollte ich rufen, aber die Taubheit des Dufts hielt mich an meinem Platz gefangen.
14. Kapitel
Die Geräusche aus dem Nebenraum rüttelten an mir. Ich zwang mich, aus der Langsamkeit aufzuwachen, was gar nicht so leicht war.
Die Schritte wurden lauter.
Ich musste wacher werden! Jetzt! Mats seufzte immer noch vor sich hin und Benno nörgelte. Die beiden reagierten überhaupt nicht auf die Geräusche vor der Tür. Der »Duft der Langeweile« hatte uns fest im Griff. Mist, warum hatten wir den Duft auch hier ausprobiert und nicht woanders, wo wir sicher gewesen wären! Ich hätte mir doch denken können, dass hier jemand auftauchen konnte. Jemand, mit dem der Anrufer von vorhin hatte sprechen wollen.
Die Geräusche waren jetzt direkt vor der Tür. Mit großer Anstrengung zwang ich meinen Körper, sich zu bewegen. Ich griff Mats und Benno jeweils an einem Arm und zerrte die zwei durch die Tür im Regal zurück in das enge Büro. Leise schloss ich sie hinter uns.
Im gleichen Moment hörten wir, wie sich ein Schlüssel im Türschloss zweimal um sich selbst drehte und so die Tür zur Duftapotheke öffnete. Schwere Schuhe traten ein. Vor Schreck stieß ich gegen Mats, der neben mir stand und wie wild blinzelte, als wolle er sich selbst aufwecken. Ich spähte durch die Türritzen, um mehr zu erkennen.
Hinter mir schrillte plötzlich das Telefon los.
Oh nein! Die Schritte wurden wieder lauter. Hektisch sah ich mich um, auf der Suche nach einem Versteck. Gleich würde der, der da draußen war, hier hineinkommen und den Hörer abnehmen. Ich drückte Benno ganz fest an mich. Es blieb uns nur der Fahrstuhl, der uns hier runtergebracht hatte. Aber wenn wir ihn jetzt in Gang brachten, würde der Lärm der Eisenketten, die den Fahrstuhl hochzogen, uns sofort verraten. Das alte Teil war schon bei unserer ersten Fahrt so ohrenbetäubend laut gewesen, dass ich mich immer noch wunderte, dass das Ding unseren Pa nicht aufgeweckt hatte.
Das Telefon schrillte ein zweites Mal.
Nein, der Fahrstuhl war unsere einzige Möglichkeit! Einen anderen Ort gab es nicht und immerhin war der Fahrstuhl hinter einer dicken Tür versteckt.
Also schlüpfte ich mit Benno voraus und zog Mats hinter uns her. Die Tür im Regal, die das Büro von der Duftapotheke aus öffnete, schob sich auf. Im gleichen Moment schloss ich die Tür vor dem Fahrstuhl.
Jemand trat in das Büro ein. Ein dumpfes Rumsen war zu hören und kurz darauf ein erleichtertes Stöhnen.
Ich versuchte, durch die Ritzen im Holz zu spähen. Viel erkannte ich nicht, eigentlich nur Bruchstücke wie bei einem Puzzle. Aber es waren genug, um zu erkennen, dass sich tatsächlich Willem Boer in den Drehstuhl vor dem Schreibtisch gesetzt hatte. Er saß mit dem Rücken zu uns, aber seine verschmierte Latzhose und sein abgetragenes Cap über den grauen Locken waren auch von hinten unverkennbar.
Das Telefon hörte auf zu schrillen.
»Ja bitte?« Die Worte des Gärtners grollten langsamer als sonst ins Telefon. Ob ihn der »Duft der Langweile« genauso benebelte?
Pause.
»Versprechen kann ich gar nichts!«, sagte er und klang noch unfreundlicher als sonst schon. »Das muss Ihnen unter den derzeitigen Umständen doch klar sein.«
Wieder Stille.
»Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Sollte ich fündig werden, melde ich mich.«
Rums! Der Telefonhörer landete scheppernd auf der Gabel und ich hörte Willem leise fluchen. Trotzdem verließ er das Büro nicht.
Mats stand so unbeweglich wie eine Statue hinter mir und schien das Atmen aufgegeben zu haben.
Willem stellte irgendetwas auf den Schreibtisch. Ich wanderte mit zusammengekniffenen Augen am Spalt im Holz entlang, um mehr zu erkennen. Da stand ein Flakon. Ich beugte mich näher an den Spalt heran, um das Etikett zu erkennen, zuckte aber in der nächsten Sekunde zusammen. Oh Mann, Willem saß gar nicht mehr im Schreibtischstuhl. Wo war er hin? Hatte er uns etwa gehört?
Kurz warf ich Benno Blicke scharf wie Laserstrahlen zu. Jedes Mal wenn ich mit meinem Bruder Verstecken spielte, verriet ihn sein Kichern. Jetzt durfte ihm nicht der leiseste Mucks rausrutschen.
Mein Blick fiel auf die Türklinke rechts neben mir. Als wir hier angekommen waren, hatten wir den Knauf auf der linken Seite betätigt, aber wozu war eigentlich die Klinke da? Ich sah zu Mats hinauf und zeigte stumm darauf. Doch er schüttelte nur heftig den Kopf, damit ich ja nichts tat.
Auch wenn ich Willem nicht sehen konnte – seine Schritte kamen näher. Ob er uns gehört hatte und ahnte, dass jemand im Fahrstuhl steckte? Durch die Ritzen sah ich die hohe Gestalt des Gärtners. Um ein Haar hätte ich vor Schreck losgeschrien, als ich erkannte, dass er direkt vor uns stand. Ohne die Tür zwischen uns hätte er uns direkt in die Augen sehen können. Ich spürte, wie mir die Aufregung durch den Körper jagte und mein Herz zu hämmern begann.
Mats hielt seine Hand über den Türknauf, damit Willem im Fall der Fälle die Fahrstuhltür nicht öffnen konnte. Seine Hand zitterte.
Da klingelte noch einmal das Telefon.
Willem schnaufte genervt und drehte sich schwerfällig um. Ein neuer dumpfer Rums ließ mich darauf schließen,