LANDEBAHN. Stefan Gross. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Gross
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347074958
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trinken und das weißt du auch. Es gibt Dinge, die eben erledigt werden müssen, auch wenn man überhaupt keine Lust dazu hat.«

      Alice gab ein dumpfes Geräusch von sich, als würde sie sich vor einem widerwärtigen Tier ekeln, aber gemeint war ich.

      »Hör auf, dich selbst zu belügen. Du bist auf der Flucht vor dir selbst, Carl. Ja, dein Leben ist ganz wunderbar okay, einerseits. Du hast einen super Job, eine super Frau und die will eine super Familie mit dir. Aber andererseits ist dein Leben überhaupt nicht okay. Dein Chef sagt dir, wo es für dich lang geht, du hast keine Freunde, bis auf solche, die du nie triffst. Und dir vergeht die Lust beim Anblick deiner Frau, wenn sie ein Kind mit dir zeugen will. Ich liebe dich, Carl, aber ich denke, du musst da was mit dir selbst klären, wobei ich dir nicht helfen kann.« Sie ging zur Tür und nahm den Griff in die Hand. »Ich fahre zu meiner Familie«, sagte sie weich und überhaupt nicht mehr wütend und ich hoffte, sie würde es sich noch anders überlegen, aber die Verwundung überwog. »Vergiss deinen Impfpass nicht!«, zischte sie, im Türrahmen stehend, und verschwand hinter der Tür, die sie zuknallte.

      Ich spürte jetzt ein anderes, sehr körperliches Problem. Der Stau in meinen Samenleitern schmerzte wie ein Krampf. Sie waren vollgepumpt mit Sperma. Das hatte also bestens funktioniert, nur die Entladung nicht, der Höhepunkt, die Übergabe, die Veräußerung, das Geschenk. Ich musste den Druck loswerden. Ich stellte mir Alice vor, wie sie dalag mit gespreizten Beinen und selbstvergessen leise vor sich hin stöhnte. Das war krass. Ich wollte die Szene nochmal durchspielen in der Hoffnung, es dieses Mal zu schaffen, als Probe für den nächsten, besseren Auftritt. Aber selbst das gelang mir nicht. Die Vorstellung, wie sie in gewisser Weise bewusstlos vor mir lag und auf ihre Empfängnis wartete, brachte mich runter, beziehungsweise gar nicht erst hoch.

      Im Bad ging die Dusche an. Alice duschte sich meine Berührungen von der Haut. Vielleicht ging es ihr ähnlich wie mir und sie besorgte es sich gerade mit dem Duschkopf. Diese Vorstellung passte. Der harte Wasserstrahl, den man einstellen konnte, der verchromte Duschkopf, die vielen kleinen, mit Gumminoppen eingefassten Düsen, der Dampf, die Wärme. Ich brauchte nicht lange. Ich nahm das Handtuch, das am Kopfende lag, es lag auch heute dort, wie immer, wenn wir hier Sex hatten und wischte mich damit ab. Dann erhob ich mich träge, streifte den Bademantel über, ging die Treppe runter in die Küche, nahm mir ein Bier aus dem Kühlschrank und trank es gierig leer. Die Wirkung setzte sofort ein. Benommen schaute ich mich um und mein Blick fiel auf die Terrasse. Dort hatten wir heute Abend sitzen, Shrimps grillen und Wein trinken wollen, aber die Hoffnung, dass Alice ihren Plan noch änderte, schwand mit jeder Minute, die sie nicht hier erschien. Ich ging zur Treppe und lauschte. Sie duschte immer noch.

      Ich holte mir noch ein Bier, ging auf die Terrasse und blinzelte in die Sonne. Die Häuser auf der anderen Straßenseite schlugen kantige Schatten. Eine Amsel saß in der Dachrinne und trällerte Kadenzen.

      Endlich kam Alice. Sie ratterte die Treppe runter und durch die Küche, der reinste ICE. Sie kramte was aus dem Kühlschrank, schlug die Tür zu, dass die Flaschen und Gläser im Seitenfach nur so schepperten und kam zu mir mit einer Flasche Sprudel in der Hand. Sie rangierte hinter meinem Rücken vorbei und stellte die Flasche betont sachte auf den Holztisch. Sie hatte sich herausgeputzt, in eines meiner Lieblingskleider geschmissen, das grüne, ärmellose, anschmiegsame aus Viskose, und die Haare hochgesteckt, als sei ihr zu heiß, als brauche sie einen kühlenden Hauch im Nacken, einen Schauer, den Anflug eines Abenteuers, das glücklich ausgeht. Ihr Nacken schien mir jetzt die Landebahn, die man der Zukunft bauen soll, zu sein, eine ungeschützte, verletzliche Stelle, auf der meine Küsse landen wollten, meine Küsse, nur meine, auch wenn es nur Küsse aus der Zukunft waren. Ihr Haar schimmerte rotgolden in der Nachmittagssonne, wie zum Beweis, dass sie die schönste Frau unter dem Himmel war und ich der größte Idiot, der im Staub der Erde herumkroch. Die Amsel trällerte eine melancholische Melodie in diesen unendlich leeren Moment, als hätte sie sie eigens für uns komponiert. Alice drehte sich zu mir um. Tränen liefen aus ihren ungeschminkten grünen und manchmal auch grauen Augen, je nachdem, welche Farben sie trug und wie das Licht gerade stand. Sie kullerten über ihre Sommersprossen. Und meine Tränen blieben in meinem Brustkorb stecken. Ein weiterer Stau von Körperflüssigkeit. Meine Augen brannten, doch ich zwang mich, sie anzuschauen, diese Maske aus verletztem Stolz, die Alice trug und mit der sie mich verbannte: Wage es nicht, mich zu lieben. Begehre mich, aber komm mir bloß nicht zu nahe. Und komm mir jetzt schon gar nicht mit irgendwelchen Erklärungen. Und fass mich nie wieder an, frühestens erst wieder in drei Wochen, aber nur, wenn du deine verlorene Seele bis dahin gerettet hast und wieder einen hoch kriegst und zwar für meine Version von Liebe und Vereinigung. Und wehe, du versuchst jetzt, mir einen dummen Kuss zu geben. Du würdest eine Viper küssen!

      Nachdem ich diese stillen Mittteilungen vernommen hatte, schaute ich an ihr vorbei zur Amsel, die da anscheinend nur saß, um diese Szene musikalisch zu begleiten. Ständig wiederholte sie ihre Melodie. Ich war so gebannt von ihrem Gesang, dass ich gar nicht mitbekam, als Alice ging.

      Erst als sie mit ihrem Wagen vorne an der Straße vorbeifuhr, wurde es mir bewusst. Ich fuhr mir mit der Hand durch den Nacken, bemerkte den Schweißfilm und dann den schalen, bitteren Nachgeschmack des Biers im Mund. Alice hatte das Sprudelwasser wohl für mich auf den Tisch gestellt, als stille Mahnung, dass ich mich nicht betrinken sollte, dass es gegen Frust was Besseres gab als Bier. Ich trank davon und sagte mir, alles wird gut. In drei Wochen werden wir hier sitzen, Shrimps essen und Rosé trinken.

      Die Amsel schwieg jetzt bedeutungsvoll. Ich fühlte mich von ihr ermahnt und ging duschen. Danach ging es mir besser.

      Ich hatte jetzt gut vierundzwanzig Stunden Zeit bis zu meinem Flug. Meinen Koffer hatte ich am Morgen schon gepackt und das bestellte Bargeld bei der Bank abgeholt. Zweitausend US-Dollar, tausendfünfhundert Euro und hundertfünfzigtausend Rupien. Das waren rund fünftausend Euro in bar für drei Wochen. Wohl genug, falls es irgendwelche Probleme mit den Kreditkarten geben sollte.

      Es war noch immer heiß, über dreißig Grad. Ich ging zur Tür und hatte Mühe, meine leichten Wanderschuhe zu finden. Ich hatte sie ewig nicht mehr angehabt und fand sie schließlich unter unendlich vielen anderen Schuhen.

      Ich nahm meinen Schlüssel vom Brett, ging nach draußen, zog die Tür hinter mir zu, vergaß aber abzuschließen. Ich ging zu meinem roten BMW 3er-Cabrio an der Straße und entriegelte das Schloss. Das Dach war noch runtergefahren, aber ich schloss den Wagen trotzdem auch dann ab, damit ich nicht nachlässig wurde und irgendwann den Schlüssel stecken ließ. Alices jüngster Bruder Felix hatte mir den Wagen besorgt. Felix war Mechatroniker und erst Anfang zwanzig. Aber er hatte schon eine gut laufende eigene Werkstatt, die er sich auf dem Familienhof eingerichtet hatte. Ein paar mietfreie Schuppen waren wirklich ein großartiges Startkapital. Er machte gute Geschäfte mit Oldtimern, die er für seine zahlungsfreudige Kundschaft herausputzte und auf Wunsch frisierte. Das sprach sich rum. Felix hatte das Cabrio einem verarmten Fotografen abgekauft. Ein Schmuckstück, Baujahr 1989 mit beigen Ledersitzen einem CD-Player mit robusten Knöpfen und kernig klingenden Boxen. Schließlich war das ein Auto aus den Achtzigern.

      Ich hatte ihm sechstausend Euro dafür gezahlt, kurz vor unserer Hochzeit. Mehr durfte ich ihm nicht geben. Der gute Preis war sein Hochzeitsgeschenk an uns und er hatte uns damit chauffiert. Er liebte seine große Schwester und ich hatte immer das Gefühl, wenn ich den Wagen auch nur anschaute, von ihm den Auftrag erhalten zu haben, seine große Schwester zu beschützen. Ich stieg ein und fuhr los.

      Wald

      Hinter Deggendorf nahm ich die Landstraßen bis zum Bayerischen Wald. Ich kannte mich noch sehr gut aus, obwohl ich lange nicht mehr hier gewesen war. Als die im Abendlicht orange leuchtende Felswand hinter der Kurve auftauchte, bog ich in den nächstbesten Feldweg ein, um mir das Schauspiel anzusehen.

      Als ich vor fast zwanzig Jahren von Berlin nach München gezogen war, hatte ich den Sommer hier in der Gegend verbracht und mit meinem unverwüstlichen Peugeot 205 so ziemlich jede existierende Straße ausgekundschaftet, was nicht besonders schwer war. Abseits des Hypes um Bayern, der sich mit weltläufig daher kommender Folklore damals überall aufdrängte, entdeckte ich hier im Osten eine Welt aus Wäldern, Bergen, Tälern, Feldern, Dörfern, Städtchen, Hügeln, Höfen, Kruzifixen, Kapellen, Festen, Kirchen, Himmeln, Gewittern, Nebeln,