LANDEBAHN. Stefan Gross. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Gross
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347074958
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richtige Studentin, behauptete Sabine, nachdem sie gegangen war. Sabine betrachtete mich nach dem Besuch mit anderen Augen, distanzierter, aber auch genauer. Ich genoss das, fühlte mich als Mann akzeptiert, nicht bloß als Schablone, aus der ich erst noch als einer hervorzugehen hatte. Sabine nahm mich ab jetzt wohl auch ein bisschen als Gefahr wahr, was wohl zum Mannsein dazugehörte. Sie nahm mich jetzt ernst.

      Mein Glück mit Annie währte nach ihrem Besuch aber nur noch kurze Zeit, exakt bis zum Ende der Sommerferien. So plötzlich wie sie in meinem Leben aufgetaucht war, war sie wieder weg, abgetaucht und für immer verloren. Nicht mal am Schlachtensee, den ich in den schweren und viel zu sonnigen Tagen nach ihrem Verschwinden täglich mindestens zweimal mit dem Fahrrad nach ihr absuchte, fand ich sie. Ich wusste nicht, wo sie wohnte und nie im Leben hätte ich Sabine angebettelt, über ihren Vater ihre Adresse rauszukriegen. Es war auch gar nicht ganz klar, ob sie noch Kontakt zu ihm hatte, denn der war anscheinend recht frisch von der Familie getrennt und weggezogen.

      Liebeskummer erlebte ich zum ersten Mal. Es war schlimmer als sterben, das stand jedenfalls fest. Vor dem Tod musste man sich nicht mehr fürchten, wenn man eine große Liebe verloren hatte und es überlebte. Ich versuchte mich abzulenken und arbeitete mich am Quellcode von Windows 95 ab. Ich ging kaum noch vor die Tür und aß nichts, auch nicht die belegten Brote, die Sabine mir in meine Zelle brachte. Ich trank Wasser mit ein paar Tropfen Cannabisöl, was aber nicht viel bewirkte. Sämtliche Endorphine produzierenden Einheiten hielten einen wochenlangen Generalstreik durch. Da halfen auch keine Drogen. Am Tag drei oder vier nach Annies brutaler Trennung kam Sabine abends in mein Zimmer und versuchte, mich zu trösten. Sie setzte sich auf die Bettkante und buhlte darum, meine beste Freundin sein zu dürfen. Und das gelang ihr ziemlich einfach. Sie war barfuß, trug ein zitronengelbes Sommerkleid, keinen BH und gab sich mädchenhaft.

      Früher hatte ich mir meine Phantasien an Sex mit ihr verboten und mich ihrer geschämt, doch seit ich mit Annie echten Sex erlebt hatte, ziemlich guten, intensiven Sex, gefielen mir die Gedanken, wie es wohl mit Sabine wäre. Die Mutter erotisch zu begehren sei eine ganz natürliche Episode, hatte Thomas mir sogar erläutert und dabei wohl, von trockener Theorie getrübt, übersehen, dass seine Frau nicht meine Mutter war. Ach ja, und das gelte natürlich in beide Richtungen, hatte er augenzwinkernd gescherzt und sah offenbar den Baum vor lauter Wald nicht. Sabines Bedürftigkeit erregte mich. Dass sie mit Thomas schon länger nicht mehr schlief, war mir längst durch den gereizten Ton im Haus aufgefallen. Auch aßen wir immer seltener zusammen. Sie hatte was geraucht. Ich sah es ihr an. Sie kicherte und benahm sich wie eine Sechzehnjährige. Sie legte es darauf an, gevögelt zu werden. Ich machte es mit ihr, im Kleid, sie trug kein Höschen, es war lustig, so wie Flaschendrehen, wir kicherten und hatten Sex und ich glühte in ihr, stand aber nicht wirklich in Flammen. Sie hätte es schnell beenden, es bei einer Irritation belassen können, aber sie verlor komplett den Verstand. Sie wurde völlig willig, schälte mich aus meinen Klamotten und sorgte dafür, dass ich in ihrem Mund explodierte, wobei sie mich mit hochrotem Kopf betrachtete. »Das war nicht gut«, stammelte ich weinend zwischen ihren Brüsten – und dass sie es da nicht endlich beendete, war noch weniger gut. »Alles ist gut. Du wirst Annie schnell vergessen«, flüsterte sie und streichelte meinen Kopf wie eh und je. Wäre sie da gegangen, hätte ich mich wohl mit dem Whisky aus dem Schrank unten betrunken. Die Flasche wartete dort seit ewigen Zeiten auf einen angemessenen Anlass. Aber sie versuchte, mich für einen zweiten Durchgang zu erregen und ich ließ sie gewähren. Doch dann flog mir die Sicherung raus. Ich sprang auf und ohrfeigte sie. Sie schrie nicht, sondern lachte und ich schlug sie wieder und sie lachte oder weinte oder beides zugleich und ich schlug sie noch ein paar Mal und schließlich zog sie ab und ich schloss die Tür hinter ihr zu.

      Ich holte mir einen runter auf die Erinnerungen an Annie und um das, was ich mit Sabine gerade erlebt hatte, zu überblenden. Ich verrieb mein Sperma über meinen Bauch und rubbelte es wieder weg, als es festgetrocknet war. Ich fühlte mich von mir selbst entkoppelt, wie ein abgkoppeltes Zugabteil, das langsam ausrollte. In Wirklichkeit hatte ich mich von Sabine entkoppelt. Irgendwann raffte ich mich auf, flitzte ins Bad und duschte eine halbe Ewigkeit. Dann ging ich runter und durchs Wohnzimmer in die Küche. Sabine kauerte mit Mickymaus-Kopfhörern über den Ohren auf dem Sofa wie eine fette alte Katze. Auf dem Glastisch stand eine leere Flasche Rotwein. Ich packte Brot, eine Schachtel Camembert und drei Flaschen Sprudel ein, huschte wieder hoch, schloss mich ein, aß die Brote, saß kauend am offenen Fenster, starrte in den schmutzigen Berliner Nachthimmel und versuchte, die Zukunft zu verstehen. Als es anfing zu dämmern und die Vögel zu zwitschern begannen, kroch ich erschöpft ins Bett und schlief bis mittags. Als ich aufwachte, hatte ich ein bisschen Hoffnung. Draußen schien die Sonne durch die freien Stellen zwischen trägen, grauen Wolken, die hier und da Regen fallen ließen, als wären sie gelangweilte Gärtner, die aufgegeben hatten zu überlegen, wo es sich nach dem heißen, trocken Sommer Ende August noch lohnen könnte zu gießen. Ich ging nach unten und fand mich allein im Haus. Das Wohnzimmer und die Küche waren pikobello aufgeräumt.

      Ich rief Mirko an. Wir trafen uns am Strand der Krumme Lanke.

      »Hey Alter, erzähl das sonst niemandem, ja. Mir kannst du alles sagen. Sogar, wenn du jemanden umgebracht hast oder so, ja?«, sagte Mirko, der meine Geschichte aufsog wie Löschpapier. Als ich mit erzählen fertig war, umarmte Mirko mich. »Hey Alter, Kiffen ist Scheiße. Ich kiff schon lange nicht mehr. Komm mit zum Boxen Alter, ich box schon wie ein Weltmeister.« Ich war überrascht. Das hatte ich überhaupt nicht mitbekommen. »Warst halt mit den Muschis beschäftigt.«

      »Wichser!«, sagte ich.

      »Motherfucker!«, sagte Mirko, grinste kurz und schlug mir die Faust auf den Solarplexus. Ich sah Sterne, schnappte nach Luft und schlug zurück. Ich traf Mirko in den Magen und er ging zu Boden und machte ein Riesentheater. Ich beugte mich über ihn. Mirko reichte mir die Hand und sprang sofort auf, als ich sie berührte. »Hey Alter, du bist vielleicht drauf! Vergiss den Scheiß, Motherfucker!« Ich haute Mirko gleich noch eine rein, traf aber nur Mirkos brettharten Bauch. »Mannomann Alter, du bist vielleicht drauf!«, stöhnte Mirko, fackelte nicht lange und landete eine Rechte, wieder auf meinem Solarplexus. Ich ging zu Boden. »Motherfucker! Vergiss den Scheiß, Alter!« Ich stand auf und schlug mir den Sand aus den Klamotten. Sabine war eine alte, kranke perverse Hure, die zu feige war, sich einen geilen Stecher zu suchen und ein aufregendes kinderfreies Leben zu führen. Sabine war für mich gestorben.

      Sabine hatte ein blaues Auge. Wenn sie rausging, trug sie eine pechschwarze Sonnenbrille. Im Haus nahm sie sie ab. Thomas sagte sie natürlich nur die halbe Wahrheit. Erzählte von einer Auseinandersetzung, die nie wieder vorkommen dürfe. Es gäbe ja wohl schon länger Spannungen. Ich sei seit einem Dreivierteljahr sechzehn, sehe aber aus wie achtzehn und sei ein Mann, ob ihm das überhaupt aufgefallen sei. Dann wickelte sie ihn ein mit Ausführungen über Privatsphäre und Erwachsenwerden und – ich traute meinen Ohren nicht – über Sex, Respekt und Verantwortung. Schließlich fiel das Wort Keller. Ich hörte ihnen von der Küche aus zu und jetzt zitierte Sabine mich ins Wohnzimmer, um was zu besprechen. Es war das erste Mal, dass wir uns seit der Sache in die Augen schauten. Die Pädagogin schaute mich an, als beginne jetzt der Ernst des Lebens. Es war lächerlich, aber wir kamen zu einer Lösung. Wir beschlossen, dass ich in die Kellerwohnung ziehen würde. Ich hatte mir das auch schon überlegt, die Küche mit meinem Destilliergerät war ohnehin schon seit längerem mein Lieblingsort. Nachdem die Möglichkeit, jemals wieder so etwas wie eine Familie sein zu können, zerstört war, gingen wir alle drei nach unten und begannen aufzuräumen.

      Die Kellerwohnung war meine Rettung. Ohne sie hätte ich mich wahrscheinlich umgebracht, nicht heldenhaft, sondern in kleinen Dosen. Es gab einen eigenen Zugang über eine Außentreppe. Ich musste nicht mal durch die Wohnung und konnte den beiden völlig aus dem Weg gehen. Sie ließen mich auch wirklich völlig in Ruhe. Ob Thomas jemals die ganze Wahrheit erfasst hatte? Die beiden stritten jetzt noch häufiger. Thomas schrie ab und zu, das war völlig neu. Und irgendwann war Sabine weg. Manchmal brachte Thomas Freunde mit nach Hause und feierte mit ihnen. Auch das war neu. Thomas hatte eigentlich keine Freunde, nur Kollegen, die nur kurz blieben, aber nie mit ihm feierten. Sie saßen im Garten am Lagerfeuer, redeten, spielten Gitarre und luden mich ein, mich zu ihnen zu setzen, aber das lehnte ich stets ab. Thomas erklärte mir, als wir uns zufällig über den Weg liefen, das seien Freunde aus seiner Männergruppe und wollte