LANDEBAHN. Stefan Gross. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Gross
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347074958
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Energie verlangen. Aber die Menschheit, die die Hoffnung nicht aufgibt, wird die KI noch mit den letzten Ressourcen der Erde füttern in dem irren Glauben an ein Happy End. Doch genau das wird ihr die KI nicht bescheren. Sie wird sagen: »Igittigitt, diese organischen Dinger, diese Menschen, stinken ja fürchterlich, ich fange schon an zu korrodieren, wenn ich sie nur rieche.« Sie wird sich ganz schnell von uns abwenden und sich selbst retten. Unsere technische Zivilisation hat sich grandios verplant. Diese Zivilisation ist nichts anderes als eine umweltzerstörende Maschinerie. Auf uns wartet kein schönes Ökotopia mit sauberer Technologie, gerettetem Klima und autofreien Innenstädten. Wir stecken schon viel zu tief im Schlamassel – und bekanntlich sinkt man schneller in den Sumpf, je mehr man strampelt. Wir haben es leider vermasselt und kommen da nicht mehr raus. Das wollte ich euch sagen.«

      Im Saal war es sehr still und auch ich schwieg jetzt. Ich war ganz sicher der pessimistischste Unternehmensberater, dem die hier Anwesenden jemals hatten zuhören müssen. Ich hatte keinen Applaus erwartet, aber die Stille war nicht weniger wert.

      Ein großer schlanker Mann im dunklen Anzug mit großer Brille und längerem grauen Haar löste sie schließlich auf. Er war vielleicht zehn Jahre älter als ich und saß in einer der hinteren Reihen. Er wartete, bis man ihm Beachtung schenkte und nahm das Mikrofon, das ihm ein Assistent reichte. Die Art, wie er dann sprach, hatte etwas Therapeutisches. Er schien öfter zu Menschen zu sprechen. »Vielen Dank für deine Ausführungen, ich bin tief berührt davon und ich möchte dir antworten, wenn du gestattest.« Ich machte eine einladende Handbewegung.

      »Du glaubst also nicht mehr an uns Menschen. Das finde ich sehr schade, aber angesichts der Situation, in der sich die Menschheit befindet, auch nicht verwunderlich. Ich kann dich also sehr gut verstehen. Viele hier im Raum kennen sicher ebenfalls dieses destruktive Denken. Ich hatte, während du sprachst, die ganze Zeit das Gefühl, dass du einen ziemlich miesen Tag hast, und das nicht nur heute. Heute ist vielleicht gar kein so mieser Tag für dich, weil du zu uns gesprochen hast, aber in letzter Zeit hattest du vielleicht ein paar miese Tage zu viel. Und deshalb möchte ich dir etwas über die Liebe sagen. Ist es nicht ein Wunder, dass es so etwas wie diese Welt und dich und uns hier überhaupt gibt? Ohne die Liebe wäre das nicht möglich. Die Liebe ist weit mehr als die Sehnsucht unserer pochenden Herzen nach Dramen und Erlösung. Die Liebe in ihrer ganzen Großartigkeit erlaubt es uns, unsere Bedürftigkeit zum Ausdruck bringen und Hilfe erbitten zu können. Und deshalb ist sie die größte systemische Fähigkeit von allen. Sie ist so beschaffen, dass andere sich von ihr angezogen fühlen. Sie überwindet damit die Grenzen des Einzelnen und verfolgt den Zweck der Verbundenheit allen Daseins in einem größeren Ganzen. Ich bin davon überzeugt, dass die Liebe auch in der Sprache der Algorithmen formuliert werden kann. Ich teile deine Befürchtungen also nicht. Die Menschheit wird sich weiter im Bedürfnis nach einem besseren, liebevolleren Miteinander vernetzen, wie es ohne die grandiosen Entwicklungen der KI gar nicht möglich wäre. Die Künstliche Intelligenz wird nicht zum Monster werden. Die Verschmelzung unseres Bewusstseins mit der künstlichen Intelligenz ist nur der nächste Schritt zu immer mehr Erkenntnis. Also, mein Freund, ich danke dir für deine Offenheit, glaube aber nicht, dass wir das Ende der Welt erleben, sondern im Gegenteil ein wahres Wunder an neuen Lösungen.«

      Der Mann bekam viel Applaus und die Kamera schwenkte zu ihm. Ich fragte mich, ob ich ihn kannte, ob er eine öffentliche Persönlichkeit war, doch ich kannte ihn nicht. Seine Thesen kamen mir vor wie ein Wahlprogramm. Er verstand mich so wenig wie wohl die meisten anderen hier auch. Die Liebe als Programm zur Rettung der Menschheit funktionalisieren zu wollen, war einfach schäbig.

      Der Moderator übernahm. Er stand plötzlich neben mir. »Lieber Carl, wir danken dir für deinen Beitrag, komm gut nach Hause und schlaf dich aus. Wir haben alle mal einen miesen Tag. Ich hoffe, du kommst schnell wieder besser drauf.« Positive Musik wurde eingespielt und zehn Minuten Pause angesagt.

      Das war ein glatter Rausschmiss. Ich wollte hier aber auch nicht länger bleiben. Ich packte meine Sachen und machte mich auf den Heimweg. Aus dem Zug versuchte ich, im Berliner Süden einige Dinge von früher wiederzuerkennen, den Gasometer in Schöneberg, das Hochhaus in Steglitz. Ich war nie wieder in Berlin gewesen seit damals, auch nicht mit Alice, obwohl sie mich einige Male dazu ermuntern wollte.

      Ich stellte den Sitz zurück, setzte mir meinen Sennheiser-Kopfhörer auf und suchte nach was Passendem.

      Schließlich landete ich bei The Pineapple Thief, einer britischen Band, die nur selten tourte und sich viel lieber in fensterlose Aufnahmestudios verkroch, um depressive Stücke zu komponieren:

       We are in EXILE. You know.

       We were wrecking our lives, you know.

       We were hostile.

       And we fall.

       To the death.

       Oooh don't be afraid to miss me.

      Ich stellte es auf Dauerschleife, gab mich hin und schlief darüber ein. Als ich in München ausstieg, fühlte ich mich eigenartig anonym und erleichtert.

      Alice

      huschte nackt ins Bad und setzte sich aufs Klo. Ich sah das durch die nasse Glasscheibe der Dusche. Ich drehte das Wasser ab und hörte sie pinkeln. Als ich an ihr vorbei zu dem Handtuch gleich neben der Tür tänzelte, spürte ich ihre Hand flüchtig über meinen nassen Hintern streichen.

      Beim Abtrocknen kam mir Peter Gabriels My heart is going boom, boom, boom… in den Sinn und das Stück klang in mir so deutlich, als käme es aus einer Box. Aber wir hatten keine im Bad, denn für Alice war ein Badezimmer ein archaischer Ort, an dem man sich den körperlichen Angelegenheiten ohne störendes Tam-Tam zu widmen hatte. Dabei schloss sie nie die Tür ab. Der Schlüssel war auch gar nicht mehr da, er musste irgendwo im Haus in einer Schublade liegen, vermutlich in der Küche. Wenn sie drinnen war, oder ich sie drinnen vermutete, klopfte ich stets an und trat vorsichtig ein, vergewisserte mich, dass ich sie nicht störte. Das Bad war ihr Hoheitsgebiet und hier hatte sie auch gerne Sex mit mir. Alice betätigte die Spülung und das gurgelnde Wasser zog die Melodie aus meinem Kopf mit in die Tiefe. Sie stand auf und kam mit kleinen Schritten zu mir. Tapp, Tapp, Tapp. Sie roch nach Sex, nach vor dem Sex. Ich betrachtete ihre Lust und mein Herz ging wieder Bum, Bum, Bum. Ich bot ihr den ausgestreckten Arm, sie berührte meine Fingerkuppen mit den ihren, alle fünf, ohne auch nach nur einer suchen zu müssen und ließ sich, ganz Ballerina, heranziehen und in Position drehen, doch ich drückte meinen Steifen nur seitlich an ihren Po. Alice wich nicht aus, unternahm aber auch nichts, um ihn in sich aufzunehmen, worauf ich ein wenig gehofft hatte. Aber wir hatten uns an diesem frühen Freitagnachmittag, dem letzten Tag, an dem ich vor der Abreise nach Indien zuhause war, ein längeres Liebesspiel vorgenommen. Schließlich wollten wir ein Kind zeugen und Alice war der Ansicht, das Bad und eine schnelle Nummer seien dafür weder der richtige Ort noch die angemessene Art, sich für so ein Vorhaben zu lieben. Sie wollte dafür mit mir ins Bett.

      Das Thema Kind beherrschte seit einigen Wochen unseren Sex. Zwar verhüteten wir weiterhin mittels Achtsamkeit und waren gut trainiert darin, unser Liebesspiel vom Zeugungsakt zu trennen. Aber das Vorhaben, ein Kind zu zeugen, wurde immer präsenter. Wir sprachen darüber, vor dem Sex, währenddessen und hinterher. Ich beteuerte stets meinen Kinderwunsch, auch wenn ich ihn nicht vollzog. Alice hatte Geduld mit mir, sprach noch nicht aus, dass sie an meinem Bekenntnis zweifelte, aber sie und ihre Bedürfnisse hatten sich in letzter Zeit geändert. Für eine schnelle, raffinierte Nummer war sie nicht mehr so oft zu haben. Sie nahm die Sache irgendwie ernster.

      Und heute galt unser Versprechen. Es wäre wohl nicht dazu gekommen, wenn ich nicht schon morgen nach Indien fliegen müsste. Der Gedanke, vor meiner Abreise ein Kind zu zeugen, war uns gestern Abend gekommen. Ohne die bevorstehende Trennung hätten wir unsere Dauerdiskussion übers Familiengründen, über das Glück des Machens, die Überwindung von Ängsten, die Verfolgung von Vorhaben auch dieser Art wohl wie üblich kontroverser und aufschiebender geführt, unsere beruflichen Zwänge mit Wein besänftigt und uns auf die Seite der Souveränen geträumt, die es wagten, Kinder in diese hoffnungslose Welt zu setzen und zu behaupten, sie sei ein guter Ort, jedenfalls dort, wo ihn die Guten bevölkerten.