Zwei Räder, ein Land. Martin C Roos. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin C Roos
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783347098923
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in der Größe eines Handballfelds. Drauf entspringt ein dickes Rohr dem Boden und windet sich durch eine Art Bühne mit Rohr- und Metall-stakendem Unterbau. Irgendwo rauscht hier das Gas durch und mir wird klar: Ist ja alles längst eingefasst und installiert; Fördertürme braucht‘s nicht mehr. Die großen Firmen haben so etwas wie venöse Zugänge gelegt, über die sie die Erde kontinuierlich anzapfen. Aber das Umgekehrte passiert auch. Infusionen gelangen in die Erde. Mit dem Erdgas sprudelt sogenanntes Lagerstättenwasser nach oben, das die Konzerne gerne wieder nach unten jagen. ›Verpressen‹ heißt es im Fachjargon. Lagerstättenwasser ist in die Kritik geraten, weil es Schwermetalle und andere Giftstoffe enthalten kann. Im Raum Rotenburg gibt es erhöhte Blutkrebsraten bei Männern, sagt die Medizinstatistik. Die Landesregierung bestätigt das offiziell und will den genauen Ursachen nachgehen.

      Ich ertappe mich dabei, die eigentlich harmlos wirkende Landschaft unter dem geistigen Filter der Erdgasgeschichten zu sehen, irgendwie bedrohlich. Als ob mich hinter dem nächsten Gehöft eine Explosion erwischen könnte. Sind die in Schwarz und Weiß Uniformierten, die in Horstedt an Bierbänken schmausen, Mitglieder eines Schützenvereins oder Angehörige eines Bereitschaftsdienstes?

      Hinter Narthausen lasse ich den Rotenburger ›Erdgas-Felderkomplex‹ vollends hinter mir. Nicht nur deswegen fühle ich mich erleichtert. Bis zur Landesgrenze von Bremen trennen mich nur fünfzehn Kilometer. Bei Fischerhude begebe ich mich in die Niederungen der Wümme, die mich ins fünfte Bundesland geleitet.

       Kilometer 277: Der Bindebaum von Krentzel

      Mein Bremenplan besteht darin, in den Kern traditionellen Kommerzes einzudringen, eine alte Kaffeerösterei zu besuchen und einen Kolonialwarenladen. Doch als ich die Wümmewiesen Bremens erreiche, ist es viel zu spät dafür. Der Ladekabel halber und wegen des langen Halts in Nartum bin ich seit fast zehn Stunden unterwegs. Bis zur heutigen Unterkunft im Norden fehlen auf direkter Route nur 14 Kilometer. Ein Umweg über Stadtzentrum und Holzhafen bedeutete fast das Doppelte. Ich zögere, lehne das Rad an einen bemoosten Holzrahmen am Straßenrand. Im Rahmen hängt ein Schild, ›Binneboom-Museum‹. Das reizt meine Neugier mehr als Kaffee und Koloniales. Ich biege zum Museum ab und lerne Klaus Krentzel kennen.

      Er steht vor seinem Klinkerhaus und klopft einen verstaubten Roof aus. Das ist ein ›Brotgetreide-Aufbewahrungskorb‹, erfahre ich, noch nicht vom Rad gestiegen. Ich lehne es an eine Art Galgen, auf der eine verrostete Riesenbimmel montiert ist. Sie gehörte der ›Jan Reimers‹, erklärt mir Krentzel. Das war die Eisenbahn, die bis 1956 von Bremen aus durch die Moorgebiete bis nach Niedersachsen tuckerte.

      Während mich Krentzel ins Haus führt, redet er sich in Rage, unentwegt Erklärstücke liefernd zu seinen Lieblingsexponaten. Tausende haus- und landwirtschaftliche Utensilien lagert er hier und in den ehemaligen Ställen des Gehöfts. Binnen eines halben Jahrhunderts hat der 80-jährige Krentzel ein – bei allem Respekt – messieartiges Museum zusammengestückelt. Da lehnt das Lebkuchen-Model an der Getreidemühle, ein Büschel altes Bentgras thront auf dem letzten Torftransporter des Teufelsmoors. »Die Achsen sind umgeschmiedete Kanonenlafetten aus dem Napoleonischen Krieg« kommentiert Krentzel, zeigt mir ergänzend das Glied aus der Kette eines englischen Panzers, Datumsvermerk 1945. Dahinter erspähe ich Butterfässer, Bahnlampen, Briefbeschwerer. Am meisten fasziniert mich die Holzpantoffelschälmaschine – es ist meine eigene Wortkreation. Die Maschine fräst nach Vorgabe eines beweglichen Metallfühlers, der einen Pantoffel als Vorlage innen und außen abtastet, aus einem groben Klotz das fertige Schuhwerk heraus.

      Bevor ich weiterfahre, möchte ich von Klaus Krentzel wissen, woher der Museumsname Binneboom kommt: »Das ist der Bindebaum oben auf dem Heuwagen, der verhindert, dass die Fracht verloren geht.« Und wie kann die Adresse seines Museums ›Am Hexenberg‹ lauten, wo es doch hier bretteleben ist? Krentzel, der, bevor er Finanzbeamter wurde, hauptberuflich Deiche gebaut hat und davor noch selbst Torf gestochen, holt dazu ein letztes Mal weit aus. Die Kurzversion lautet: Es gab einen Steinwurf von hier einen Buckel, an einem Kanal zum Torftransport gelegen. Der Kanal verlandete dort regelmäßig, was die Bauern zu Flüchen und Verwünschungen reizte, weil ihre Kähne am ›Hexenberg‹ auf Grund liefen. Schließlich legten die Torfbauern Hand an und beseitigten den Buckel.

      Wie in der Elbmarsch hinter Hoopte hat der Mensch auch in diesen Niederungen Bremens die Landschaft völlig umgekrempelt. Die unendlichen Kanäle der Borgfelder Wümmewiesen bezeugen das ebenso wie das Blockland hinter Borgfeld. Hat Blockland etwas mit Felsen zu tun? Nein, das den Sümpfen abgerungene Lehmland blieb im Mittelalter zwischen all den Kanälen sozusagen nur blockweise übrig.

      Für mich gerät das Blockland auf den letzten Tageskilometern zu inselgleicher Idylle. Ein mildes Lüftchen weht, abendroter Dunst zieht auf wie ein sonnenwarmes Sommerkleid. Auf der sich zwischen Schilf und Baumgruppen schlängelnden Straße kommen mir Scharen palavernder Radfahrer entgegen, unterwegs ins Zentrum Bremens. Nachtigallen schlagen, vereinzelt stehen Häuser. Selten kurvt ein Auto heran, immer wieder blinkt Wasser links und rechts der Route.

      Das Blockland leert sich, aber die mir in Aussicht gestellte Ferienwohnung ist belegt. Gern willige ich ein, das Praktikantenzimmer zu nutzen. Ich nächtige auf einem Biobauernhof und darf im Haupthaus selbst kochen – was es am Ende gar nicht braucht: Ich dürfe mich einfach aus den vollen Töpfen bedienen. Beim Essen mit der Familie erfahre ich vom Boom, Land ökologisch zu bewirtschaften: Bremen hält im Ländervergleich Deutschlands den Zuwachs-Rekord in Sachen Bioanteil der Landfläche. Ein anderer Rekord wurde eine Woche vor meiner Ankunft gebrochen: Die SPD lag in Bremen stets vor der CDU, was sich bei den Landtagswahlen erstmals änderte und gut zwei Monate später zur ersten rot-grün-roten Koalition im Westen Deutschlands führen wird. Einen anderen Länderrekord hält Bremen ungebrochen: Das Land hat mit knapp zehn Prozent, vor Berlin (acht Prozent), die höchste bundesweite Arbeitslosenquote.

      Gesättigt von Gesprächen und Information ziehe ich mich früh zurück aufs Zimmer. Morgen, freue ich mich, fresse ich Kilometer. Und es geht gen Süden, endlich.

      Der Sammler: Hütet tausendundein Utensil der traditionellen Land- und Hauswirtschaft: Klaus Krentzel ist Kreator und Kurator des Binneboom-Museums am Rande Bremens.

       Düste, DeepHolz, Dümmer

      4 Uhr, kein Schlaf, nirgends. Warum bloß? Grübelnd sich im Bett zu wälzen und Ursachenforschung zu betreiben, gehört zu meinen Spezialitäten. Fehlt mir norddeutsche Nüchternheit, Umstände einfach hinzunehmen, unhinterfragt zu lassen? Dabei habe ich in der Familie nicht nur einen sächsischen, sondern auch einen niedersächsischen Einschlag. Eine Urgroßmutter stammt aus der Nähe von Bremen. Sie war berüchtigt für ihre harte Hand, physisch und psychisch. Ihretwegen landeten mein Vater und einer seiner Brüder im Internat. Dort gehörten autoritäre Erziehung, Prügelstrafen und Mobbing auch nach Ende der Nazizeit zum Schulalltag. Liegen dort die Ursachen dafür, dass mein Vater ein Stück weit lebensuntauglich wurde und selbst kein guter Erzieher?

      4.30 Uhr, das Fenster im Praktikantenzimmer des Biohofs im Bremener Blockland lässt sich nicht öffnen. Stickig ist es im Zimmer und wahnsinnig hell. Ich überfliege die Buchrücken im Regal am Bett: ›Wolfsschanze – das Führerhauptquartier‹, direkt neben dem Kopfkissen. Nebendran stehen ›Hunde ernst genommen‹ und ›Wenn die Dämme brechen‹. Ich stehe endgültig auf, bereite ein Notfrühstück. Dafür habe ich einen Tauchsieder passend zur Thermosflasche, die unterwegs im Flaschenhalter steckt. Tagsüber transportiere ich Tee darin. Jetzt erhitze ich Wasser fürs Handdruck-Espressogerät, das ich mit gemahlenem Arabica befülle.

      5.30 Uhr. Ich habe gefrühstückt, gepackt und eine Nachricht für die Wirtsleute geschrieben. Draußen, unter dem Werbeschild für die Bremer Milch- & Käsestraße, bediene ich mich an der Luftpumpe, die für Hofgäste an eine Hauswand gekettet ist. Als ich den Schallschatten des Gebäudes verlasse, halte ich und lausche: Von Süden her, aus Bremen-Zentrum, wummern Bässe; akustisches Zeugnis einer nächtlichen Sommerfete. »Typisch, Studenten« sagt ein grimmig dreinschauender Anwohner mit Hund an der Leine. Der Mann kommt von einem Haus mit Reetdach. Die Schräge ist derart groß und so weit heruntergezogen, dass die straßenseitige Hausfront