Exakt ein Auto begegnet mir bis Seekamp. Ich quere das Wässerchen namens Berliner Au und rolle Unter den Linden ein. ›Unser Berlin ist 22 Jahre älter als die Hauptstadt‹ vermeldet die amtliche Webseite Trave-Land. Gut fünfhundert Einwohner hat dieses Berlin, gegründet von Fürst Berolin, 1215 erstmals erwähnt. Zu Kaisers Zeiten dienten Holstein-Berliner in Hauptstadt-Berlin. Aus Jux und Größenwahn importierten sie Straßennamen in die Heimat. Nach dem Zweiten Weltkrieg machte man Ernst, ließ sich von Westberlin original Straßenschilder spendieren.
Unter den Linden 1, an dieser Adresse stehe ich jetzt. Mit Frühstücksfrust, denn die dortige Imbissbude hat noch zu. Probevisite an Berlins einzigem Gasthaus: Es öffnet noch später. Und die Tankstelle? Ölkanister und Scheibenspray. Das Nebengebäude heißt ›Super Markt H. Hey‹. Aber drinnen, hinter erblindenden Scheiben, sehe ich nur den Podex eines Mopeds, Segeberger Kennzeichen. »Hat vor ein paar Jahren dicht gemacht« ruft mir eine tankende Frau herüber, die mich Hey starren sieht. »Bis zum nächsten Supermarkt sind es so sieben Kilometer, nach Norden raus.« Ich will nach Süden. Warum hat der Markt zugemacht? Die Frau sagt, immer mehr Menschen boykottierten den Laden. »Die Besitzer stellten sich aber auch an! Wenn da jemand auch nur eine Minute zu spät kam, nach Ladenschluss, haben die den nicht mehr reingelassen.« Als ich der Frau meine Hungermisere schildere, darf ich ihr nach dem Tanken von der Potsdamer in die Heerstraße folgen. Dort betreibt die Frau zusammen mit der Familie einen Haflingerhof, Hauptprodukt Stutenmilch. »Aber so früh am Tag ist noch nicht fertig gemolken, da kann ich Ihnen nur Tiefgefrorene anbieten.« Ich überlege nicht lange.
Kilometer 14: Tiefkühl von der Stute
Wenig später glänzt auf meiner Packtasche, silbrig und unterm zarten Flaum frischen Reifs, ein flacher Viertelliter-Beutel mit Demeter-Logo. Klar muss ich warten, bis die Stutenmilch angetaut und trinkbar ist. An Niedersachsens Milchtankstellen werde ich ab Morgen schneller zum Zuge kommen. Denke ich, wieder einmal. Dreißig Stunden später werde ich bereuen, mich darauf verlassen zu haben.
Kaum bin ich in Fahrt, halte ich am Ortsende Berlins, Gutshof angucken. Das Gemäuer schimmert nicht klinkermodern kühl, es glänzt warmrot im Gewand alter Steine. Oben prangt ein trabendes Pferd als Wetterfahne. 1925: Schnörkeleisen verkünden das Baujahr. Respekt, es war das Jahr einer wirklichen Misere. Landwirtschaftliche Geräte waren teuer, Kreditzinsen hoch. Zudem litten Bauern unter Preisdruck, weil die Weimarer Republik 1925 erstmals Agrarprodukte aus dem Ausland zuließ.
Die Bauernmisere kumulierte in der Landvolkbewegung, die von Holstein auf die gesamte Republik übergriff. Viele Bauern radikalisierten sich, es gab gewaltreiche Demos und Anschläge. Ganz so wie Hans Fallada schreibt in ›Bauern, Bomben und Bonzen‹. Als Blaupause diente ihm Neumünster, gut dreißig Kilometer westlich von Berlin. Dort saß Fallada zweieinhalb Jahre im Gefängnis, weil er, bereits vorbestraft, Geld für Alkohol und Morphin unterschlagen hatte. Im Juni 1928 kam er frei, war später Lokalreporter des General-Anzeiger und Zeuge des Bauernaufstands sowie eines Schauprozesses gegen die Aufrührer. Die Bonzen, das waren zu Falladas Zeiten die Roten. Die Bauern wählten zunehmend braun. Auf dem Boden der Landvolkbewegung gedieh der Nationalsozialismus allzu prächtig – berüchtigt seine Wahlerfolge von 1928 in Holstein und im Kreis Segeberg, zu dem Berlin gehört. Segeberg gerät jüngst wieder in die Schlagzeilen. Dort versucht ein mehrfach verurteilter Rechtsextremist, ein Nazi-Netzwerk auszubauen.
Segeberg endet hinter Steenkrütz, wo heute ein harmloses Netzwerk installiert wird. Rechts der Straße spannt sich nagelneuer Maschendraht um ein Areal, etwas so groß wie ein Badepool. Eben packen die Bauarbeiter ein, ich frage den Bauleiter, was das für ein Gehege wird. »Wir machen hier ein neues Konto auf« scherzt er und ergänzt: »Das gehört hier zu einer Ökobank. Die besteht aus Flächen, welche die Naturschutzbehörden ausweisen, um Firmen oder Privatleute zahlen zu lassen für massive Eingriffe in die Natur. Das kann zum Beispiel eine Straße sein oder ein Bauwerk – kann auch ganz woanders sein als hier oben an der Trave.« Auf dem Steenkrütz-Konto sollen Amphibien heimisch werden. Ich frage, ob so das Land mehr Wildnisgebiete bekommt, die der Bund jetzt einfordert. Nein, sagt der Bauleiter, dafür sei die Landschaft zu kleinteilig strukturiert, ein generelles Holstein-Problem.
Im Mix der Felder variieren die Dörfer. Strenglin steht ernst hinter Gerste, Pronstorf hat ein mondänes Gut. Stallungen werden für ein Festival präpariert, kündigt ein Plakat. Goldenbek signalisiert mir einen ersten Wink in die deutsch-deutsche Vergangenheit: Am Mast einer Seitenstraße weht ein Originalbanner der DDR-Automarke ›Trabant‹. Zu erspähen ist von der Straße aus nichts, auf Klingeln oder Rufen reagiert niemand. Ich frage einen Passanten. Der berichtet, ein Fernfahrer bastelt hier in der Freizeit an Rennpappen.
Einen einzelnen Trabi bekomme ich eine Radstunde später dann doch noch serviert. Vorher kredenze ich mir am Rand der Holsteinschweiz ein Mahl aus dem Folienbeutel: Meine Frostmilch ist angetaut, endlich. Schmeckt angenehm mild und nussig, dieses Stutenelixier, gar nicht so tierisch herb wie vermutet. Aber ich brauche mehr, etwas Handfestes, nehme Witterung auf in Berkenthin. Da liegt das ›Kleine Kaufhaus‹ an meiner Route. ›Kohlenhydrate‹ denke ich, erblicke im Schaufenster aber nur Plastikspielzeug – und neben dem Haus eine Leiche. Es ist ein kunterbunt angemalter Trabi mit krätziger Karosserie und erloschenen Kulleraugen über halb abgerissener Stoßstange. Auf dem Dach sitzt das Riesenimitat eines Drehschlüssels. Ob das auch ein Spielzeug ist, frage ich im Kaufhaus. »Ja, das war ein Werbegag, zum 25-jährigen Jubiläum unseres Ladens« klärt mich drinnen die Frau hinter dem Verkaufstisch auf. Ihr Vater hatte das Ding einer seiner Angestellten aus dem Osten abgekauft, die sich von ihrem Lohn ein Westauto leistete.
Ein echtes DDR-Schnäppchen. Wusste Günter Grass davon? Inspirierte ihn die Trabileiche gar? Grass wohnte nur zehn Fahrminuten von Berkenthin, in Behlendorf. Unvergessen nach der Wende: Seine Rede ›Ein Schnäppchen namens DDR‹, gehalten vor dem Bundestag zum Tag der Deutschen Einheit. Er wusste, die Rede würde einen Eklat auslösen, und amüsierte sich später in einem seiner Tagebücher: ›Die Diskussion danach begann wie gewohnt mit »Wo bleibt das Positive?« obgleich ich doch diese deutsche Standardfrage verhöhnt hatte.‹ An der Person Grass, dem großen Kritiker der Einheit, sucht man heute noch nach kleinen Widersprüchen. Einen nahm er mit auf den Friedhof: Obwohl längst aus der Kirche ausgetreten, ließ er sich mit Pastors Segen bestatten.
Mit flauem Magen mache ich den Abstecher nach Behlendorf. Primär geht es mir ums profane Essen; immerhin gibt‘s einen Kiosk. Nebenbei untersuche ich das Sakrale am Grass-Grab [Kurzclip www.tinyurl.com/Grass1990]. Es ist herrlich weltlich: ein großer Baum, ein großer Stein, viel Grün und kein Kreuz.
Sechzehn Lieblingsorte
Einen aus jedem Bundesland, gelistet in der ›erfahrenen‹ Reihenfolge (siehe Sach- und Personen- sowie das Ortsverzeichnis am Buchende):
Das Grassgrab (Behlendorf/Schleswig-Holstein)
Die Ossiproduktion (Boizenburg/Mecklenburg-Vorpommern)
Der Herbstprinz (Hamburg)
Das Blockland (Bremen)
Der Dümmer (Niedersachsen)
Das Fachwerkspektakel (Freudenberg/NRW)
Die Raserstrecke (hinunter nach Eltville/Hessen)
Das Rebenland (um Laurenziberg/Rheinland-Pfalz)
Der Bürgergarten (Blieskastel/Saarland)
Die Schwarzmiss (Kaltenbronn/Baden-Württemberg)
Der Trüffelitaliener (Rothenburg ob der Tauber/Bayern)
Die Bastei (Blankenberg/Thüringen)
Die Landbrücke zwischen Kahnsdorfer und Hainer See (Sachsen)
Das Gartenreich (Wörlitz/Sachsen-Anhalt)