Deutschstunde. Siegfried Lenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Siegfried Lenz
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783455810813
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ungeprüft. Niemand wagte, ein Geschenk flüchtig oder gering zu behandeln. Sie hoben die Flaschen schnalzend hoch, stießen eine Faust in den Kaffeewärmer, steckten sich spaßeshalber die Schlipsnadel an, und Per Arne Scheßel versuchte, seine verdammten heimatkundlichen Erläuterungen anhand seines Buches zu geben, das er aufgeschlagen herumreichte. Das staunte und gab sich bewundernd und lobbereit. Das nickte, pfiff durch die Zähne. Das ertastete und erkundete, und Andersen, der Kulturfilm-Kapitän, zielte mit seinem braunen, knotigen Stock auf das Bild und sagte: Dat schallt woll in ’n Ärmelkanal sien? In ’n Ärmelkanal, do hebt wi immer son Wetter haft. – In Glüserup ist das, sagte Bultjohann, in meinem Bezirk, und der Maler klopfte beiden auf die Schulter und gab beiden wortlos recht.

      Sie legten die Geschenke zurück und drängten sich jetzt um das Bild und redeten, und ich ließ sie reden, denn barfuß auf der geländerlosen Holzbrücke vor der Hecke im Staudengarten lief Jutta und trug etwas, und ich sah noch durch die Scheibe, wie sie mit der schwarzen Last ins Gartenhaus flitzte: da zwängte ich mich durch den Kreis der bedenklich nickenden Bildbetrachter, holte meinen Stock aus dem Wohnzimmer, und als ich aus dem Fenster in den Garten sprang, kam Addi mir nach. Auch er sprang aus dem Fenster und lief quer über die Beete zum Gartenhaus, vielleicht hatte auch er Jutta gesehen, vielleicht hatte er sogar ein Zeichen von ihr bekommen, jedenfalls stürzte er an mir vorbei und knuffte mich in die Seite, als er mich überholte.

      Auf dem gewellten schwarzen Erdboden im Gartenhaus lag Addis Akkordeon. Jutta stand spreizbeinig dahinter, gefaßt auf eine Auseinandersetzung, in spöttischer Erwartung, doch Addi sagte nichts, protestierte nicht, sondern starrte sie nur fassungslos an und schüttelte den Kopf. Spiel, sagte sie. Addi rührte sich nicht. Spiel doch, sagte sie, heute ist Geburtstag. Addi zuckte die Achseln. Dann spiel leise, sagte Jutta, und ich sagte: Leise, ja, nur für uns, und Addi schüttelte den Kopf. Früher hatte ich auch ein Akkordeon, sagte Jutta, ich hatte sogar zwei; und ich konnte auch spielen. – Dann spiel du, sagte ich, doch sie zeigte auf Addi und sagte: Er soll spielen, es ist sein Kasten. – Deine Mutter, sagte Addi zu mir, sie will es nicht. – Aber die andern wollen es, sagte ich, und dann wandten wir uns gleichzeitig zum Eingang, von woher ein Schatten fiel, wo Jobst stand, feist und grinsend, als ob er uns ertappt hätte. Er sah auf den Kasten, auf uns, wieder auf den Kasten, kam herein mit seinem stampfenden Schritt, befreite das Akkordeon aus dem Etui und löste die Lederriemen, und warum soll ich noch weiter verzögern, hinausschieben, was dann doch festgestellt werden muß: Addi fuhr beidhändig in die Lederschlingen, nickte uns auffordernd zu, und wir stellten uns in einer Reihe hinter ihm auf, und mit Alo-Ahe marschierten wir aus dem strohgedeckten Gartenhaus, jeder die Hände auf den Hüften seines Vordermanns.

      Jutta hielt sich an Addis Hüfte fest, ich hielt mich an Juttas schmaler, knochiger Hüfte fest, und der warme Druck an meiner Hüfte, das waren die fleischigen Finger von Jobst. Entlang dem Gartenweg zum Atelier marschierten wir, wiegend, tänzelnd, gebeugt vor allem, und der Wind wehte, Addi spielte, und Hawaii sang seine allerschönsten Lieder in Bleekenwarf.

      Drinnen klopften sie an die Scheiben und winkten uns zu, und unser etwas kurz geratener musikalischer Lindwurm schaukelte am Atelier, dann an den vierhundert Fenstern der Wohnstube vorbei, auf und ab zogen wir über die schwarzen Gartenwege, werbend, auffordernd, und ich weiß noch, daß Hilke die erste war, die sich unserem wiegenden Zug anschloß, und nach Hilke kamen Pastor Treplin und Holmsen und der Vogelwart Kohlschmidt und Ditte, und Ditte war es, die im Vorübergehen meinen Vater am Gelenk packte und seine Hand auf ihre Hüfte zog, und auf einmal hatte unser Zug einen eigenen Sog, eine unwiderstehliche Kraft, die sich aneignete und einverleibte, was am Weg stand, eine fröhlich schaukelnde Gewalt, die keinen mehr unbeteiligt ließ, der uns zu nahe geriet, so daß unsere Reihe wuchs und wuchs und schon mehrere Buchten warf. Auch der Maler war jetzt im Zug und der Deichgraf Bultjohann und Hilde Isenbüttel; nur meine Mutter fehlte, und ich wußte, daß sie nichts bewegen würde, sich uns anzuschließen: selbst der strenge Schatten ihrer Erscheinung in der Tiefe des Ateliers drückte noch hochmütige Weigerung aus: Gudrun Jepsen, geborene Scheßel. Dabei hätte sie sich doch ein Beispiel nehmen können an Kapitän Andersen, der mit seinen zweiundneunzig Jahren zumindest den Versuch machte, unsern wiegenden Lindwurm durch die Lüneburger Heide, durch den wunderschönen Sand zu begleiten: der photogene Greis drängte sich zwischen Addi und Jutta, beugte sich knackend nach vorn, und mir war, als ob ich es rascheln hörte, als ob da trockene Mohnkapseln aufbrachen und Mohn aus seinen Hosenbeinen rieselte, und der Alte schaukelte tatsächlich einige Meter mit, bis er, sozusagen, seinen herbstlichen Mohn verstreut hatte und atemlos zur Seite ausscherte. Addi führte uns, und Jutta hielt ihn an den Hüften fest und lenkte ihn, und nachdem wir durch den Garten gezogen waren, zwängten wir uns durch die Hecke und trappelten über die Holzbrücke, über die Wiese, den Deich hinauf und beinahe auf dem Grund der Nordsee bis nach England, wenn Addi sich nicht anders entschlossen hätte. Er machte eine gewaltsame Wendung, und als wir den Deich wieder hinabdrängten, wiederholte unser langer, wogender Körper ziemlich getreu die Bewegungen, die der Balg seines Akkordeons beschrieb unter Druck und Zug. Wir schoben uns wieder in Richtung Bleekenwarf, an dem Spalier der Erlen vorbei, die sich im Graben spiegelten und mit ihrem Spiegelbild nicht zufrieden sein konnten, da der Wind den Spiegel krüllte und beunruhigte, so daß die Stämme hin und her wedelten wie in einem unterseeischen Sturm. Um die Kette wenigstens nicht bei mir reißen zu lassen, hatte ich Jutta mit beiden Händen umfaßt, Jutta hatte auch Addi umfaßt, und ebenso umfaßten sich auch einige andere.

      Und ich weiß noch, als wir ans schwingende Tor kamen, stand Okko Brodersen da, der einarmige Postbote. Sein Fahrrad lehnte am Außenpfosten. Er hatte ein Papier in der Hand und hielt es hoch – zum Zeichen, daß er berechtigt sei, sich hier aufzuhalten. Mitmachen, rief Jutta, und ich wiederholte: Mitmachen, und wir bedrängten ihn ganz schön und verleibten ihn uns ein mitsamt der Post, die er gebracht hatte. Am rostroten Stall vorbei, am Teich, am Schuppen, und als wir um das Atelier bogen, blickte ich zurück und sah, daß der Gänsemarsch sich aufgelöst hatte oder dabei war, sich aufzulösen, erschöpft und begeistert, immerhin auch begeistert – was meine Mutter doch erkannt haben muß. Doch selbst in seiner Auflösung folgte der Zug noch Addi, der spielend in den Garten einbog und dort Berliner Luft Luft Luft herstellte oder zumindest ahnen ließ, worauf einige begannen, Tische und Stühle herauszutragen nach vorsorglicher Beobachtung des Himmels über der Nordsee. Die glänzenden Ritzen zwischen den dunklen Wolken ermutigten uns, desgleichen die blauen Tümpel und das flockige Weiß schnell ziehender Wolken über uns. Wir verlegten den Geburtstag in den Garten.

      So, und nun möchte ich keinen daran hindern, sich den kurzen Transport der Möbel vorzustellen, das Anheben, Abnehmen, das verkantete Bugsieren durch offene Fenster, überhaupt den gutgelaunten Tumult eines Umzugs ins Freie, den Addi mit »La Paloma« und »Rolling home« begleitete, denn ich muß meinen Stock suchen, ich muß meinen mit Reißzwecken besetzten Stock wiederfinden, den ich irgendwo hingelegt hatte, als sich der Zug bildete. Aber wo? Im Wohnzimmer? Im Atelier? Ich ging die Wege ab. Ich inspizierte die Stauden. Auf dem Hof suchte ich und am Schuppen. Mein Stock lag auf keinem Fensterbrett. Er schwamm nicht im Teich. Habt ihr meinen Stock gesehen? fragte ich die beiden Männer am Teich. Mein Vater und Max Ludwig Nansen schwiegen. Sie antworteten nicht, schüttelten nicht einmal den Kopf, sondern schwiegen nur erregt, und ich suchte weiter, bis ich auf einmal einen Verdacht hatte und zurückschlenderte zum Teich, auf dem ein altes weißes Entenpaar vier jungen Enten Formationsschwimmen beibrachte. Im Schutz der gefällten, übereinanderliegenden Pappelstämme bewegte ich mich auf die alten Freunde aus Glüserup zu, schlüpfte durch einen Spalt in einen Hohlraum unter den Stämmen und sah durch einen fast ebenmäßigen Lichtschlitz den Maler und meinen Vater abgeschnitten in der Hüfte vor mir stehen, so nah, daß ich die Beutelung ihrer Taschen erkennen und sogar vermuten konnte, was sie in den Taschen trugen. Glatt und kühl war der Boden meines Verstecks, und der Wind fiel scharf durch die Ritzen zwischen den Stämmen ein. Indem ich mich hob oder in die Hocke ging, konnte ich die Männer verkleinern oder wachsen lassen, doch ihre Gesichter bekam ich nicht zu sehen, ihre Gesichter blieben außerhalb meiner Perspektive.

      Zuerst merkte ich, daß der Maler da einen Brief in den Händen hielt, einen rot durchkreuzten Eilbrief, den er offensichtlich bereits gelesen hatte und den er nun meinem Vater zurückreichte, herrisch und außer sich, mit einer kurzen, heftigen Bewegung, und da wußte ich schon, daß mein Vater, vor der Wahl – entweder den Inhalt des Briefes mündlich