Paffend stand er vor dem Fenster und starrte hinaus in die Brandung, mit verengten Augen, den Kopf gesenkt wie zu einem Rammstoß, während Jutta geräuschlos hervorkam aus der Dämmerung, lächelnd ihre starken Schneidezähne entblößte und sich von neuem Addis erstaunten Fragen stellte.
Da hörte ich Hilke auflachen. Sie schwenkte ein Blatt in der Hand. Sie hatte es unter einer Mappe vom Arbeitstisch weggezogen, ohne daß der Maler es gemerkt hatte. Was ist? fragte ich. Komm, sagte sie, komm nur, Siggi. Sie sah auf das Blatt und lachte wieder. Was fehlt dir? fragte ich, und sie legte das Blatt flach auf den Tisch, glättete es und fragte: Erkennst du ihn? Ja?
Möwen, sagte ich, lauter Möwen, denn zuerst erkannte ich nichts anderes als dies: eine stürzende, eine brütende, eine schwebend patrouillierende Möwe, doch dann entdeckte ich, daß jede Möwe eine polizeiliche Dienstmütze trug und einen Hoheitsadler auf dem gewölbten Bug, und dies nicht allein: alle Möwen glichen meinem Vater, sie hatten das lange, schläfrige Gesicht des Polizeipostens Rugbüll, und an ihren dreizehigen Füßen trugen sie sehr kleine Gamaschenstiefel, wie mein Vater sie trug. Tu das man in die Mappe, sagte der Maler mit zögernder Stimme, aber Hilke wollte nicht, Hilke bettelte: Schenk mir das, ja, bitte, schenk mir das, und der Maler wieder: Tu das in die Mappe, sag ich, und als Hilke das Blatt einfach zusammenrollen wollte, nahm er es ihr aus der Hand, schob es in die Mappe und sagte: Das könnt ihr nicht haben, das brauche ich noch. Dann zog er die Mappe zu sich herüber und legte einen Karton mit alten Farbtuben darauf. Wie heißt denn das Blatt, fragte Hilke.
Steht noch nicht fest, sagte der Maler, vielleicht aber »Lachmöwen im Dienst«, ich weiß noch nicht.
Dann nicht, sagte Hilke plötzlich, aber warum zeichnest du nicht mich? Du hast es mir einmal versprochen, oder mich und Addi; komm Addi, und meine Schwester griff nach dem Arm ihres Verlobten und schob ihn energisch dem Maler entgegen, mit einer Geste, die kaum etwas anderes besagen konnte als: dieser Mann läßt sich viel leichter porträtieren als vergleichbare Männer, nur zu. Es geht nicht, sagte der Maler. Warum, fragte meine Schwester, warum geht es nicht? – Ich hab mir die Hand verbrüht, sagte der Maler, und Hilke: Richtig verbrüht? und der Maler nickend: Auf lange Zeit verbrüht.
Das Gewitter stand jetzt über der Halbinsel, und es liegt nahe, schulmäßig zündende Blitze zu beschreiben, auf Böen und alle Variationen des Donners einzugehen, ich könnte die Verlorenheit der Hütte am Fuß der Dünen bestätigen, das Ächzen des Holzes unter Sturmstößen, die Bodenplanken könnte ich erzittern und den Kitt an der Scheibe platzen lassen: Gewitter von See her sind ja bei uns häufig verzeichnete Geschehnisse.
Aber nicht das Gewitter bedeutet meiner Erinnerung etwas, sondern die Feststellung meiner Schwester, daß die Hütte zu lange einen Besen entbehrt hatte oder eine ordnende Hand; das stellte sie fest beim Reißen der Blitze, und was jedem mißglückt wäre – ihr gelang es: Hilke entdeckte prompt die verborgene Handeule mit den steif gebogenen Borsten, fragte erst gar nicht, ob jemand etwas dagegen hätte, zog den Mantel aus, schubste die Hocker zur Seite und begann zu fegen. Zielbewußt kehrte sie den Sand in eine Ecke, drängte uns alle zum Arbeitstisch und setzte bei der Tür an. Sie türmte die Hocker aufeinander. Sie ordnete Liegendes auf den Regalen. Den vernachlässigten Spirituskocher wedelte sie rein. Hin und her bewegte sie sich mit ruhigem Eifer und fand die Hütte zu klein für ihre Geschäftigkeit und zögerte, die Hocker an ihren Platz zurückzustellen, weil das ein Ende bedeutet hätte.
Und Jutta. Jutta kauerte lächelnd auf einem hölzernen Schlafgestell, ihre starken Schneidezähne schimmerten, ihr Blick ruhte auf Addi, der sich verlegen hierhin und dorthin schubsen ließ. Er hätte gern etwas gesagt, womöglich hätte er am liebsten einen Fuß auf den wieselnden kleinen Besen gesetzt und zugetreten, das möchte ich annehmen, doch er schwieg nur und fügte sich gehorsam in alles, was Hilke ihm zumutete.
Ich weiß noch den Augenblick, wie er zusammenzuckte, ich weiß auch noch sein Erschrecken, als es auf einmal draußen an die Tür der Hütte klopfte, mitten im Gewitter fielen die Schläge gegen die Tür, und wir sahen uns alle ratlos an und zauderten, und schließlich war es der Maler, der den Riegel aufzog und öffnete, obwohl Addi unmittelbar neben der Tür stand. Der Maler brauchte den Drücker nur loszulassen, der Wind warf die Tür an die Hüttenwand.
Gegen das Grau der Sanddünen, mit flatterndem Umhang, von Blitzen erhellt, die über sein Gesicht wetterten, verharrte mein Vater vor dem Eingang, ein behäbiger Nis, von mir aus, ein schwerfälliger Regenspuk, der uns lange im unklaren darüber ließ, was er wollte, denn er machte keine Anstalten, zu uns hereinzukommen, verharrte nur bedeutungsvoll und schien Spaß an unserer Unruhe zu finden, doch plötzlich sagte er tonlos: Siggi?
Hier, sagte ich und flitzte gleich zu ihm, und er stieß einen Arm aus seinem Umhang, packte mich am Gelenk und riß mich zu sich nach draußen, wandte sich wortlos um und zerrte mich durch den Wolkenbruch zum Deich.
Keine Ermahnung. Keine Drohung. Ich hörte nur sein leises Schnaufen und spürte die zornige Klammer am Handgelenk, während wir über die Dünen stolperten und dann hinauf auf den Deich, wo das Dienstfahrrad lag. Mein Vater sagte kein einziges Wort, und ich wagte nichts zu sagen, weil meine Angst mir vorauslief, weil ich in der Tiefe meiner Angst wußte, was mich erwartete, ein Wort hätte nichts geändert, und so saß ich verkrampft auf der Querstange, hielt mich ganz fest, während er anschob und aufsaß und es fertigbrachte, bei seitlichen Böen unter dem Gewitter anzutreten und den Deich hinabzufahren, ohne auch nur ein einziges Mal abzusteigen. Ich wußte, was ihm dieser Weg abverlangte an Kraft und Aufmerksamkeit. Ich hörte ihn dicht an meinem Kopf schnaufen und keuchen, hörte ihn ächzen, wenn er mit heftigen Regungen Windstöße parierte. Wenn er zumindest geflucht hätte! Wenn er mir nur eine geschmiert hätte, als er mich aus der Hütte riß! Alles wäre leichter gewesen, und ich hätte mich sogar mit meiner Angst befreunden können. Aber mein Vater schwieg auf der ganzen Fahrt, er strafte mich mit einem Schweigen, das die endgültige Strafe erst ankündigte, das war so üblich bei ihm: alles wurde angekündigt, vorbedeutet, er war kein Mann der Überraschung, und wenn er, sagen wir mal, aus beruflichen Gründen einzuschreiten hatte, dann tat er es nur selten ohne den Hinweis: Achtung, ich schreite jetzt ein.
Wortlos fuhren wir also den Deich hinab und dann über den Ziegelweg nach Hause; an der Treppe ließ er mich abspringen, befahl mir mit einer Bewegung des Zeigefingers, das Fahrrad in den Schuppen zu bringen, und als ich zurückkam, packte er wieder mein Handgelenk und zog mich ins Haus. Im Gehen befreite er sich aus dem Umhang, vermied es, mir in die Augen zu blicken – gerade als fürchte er, seine angesammelte Enttäuschung oder Wut könnte sich zu früh entladen –, und ging hinter mir die Treppe hinauf zu meinem Zimmer, in dem schon Licht brannte. Seit sie meinen älteren Bruder Klaas nach seiner Selbstverstümmelung abgeholt hatten, wohnte ich allein in dem Zimmer, mir gehörten die Wände und das Fensterbrett, ich hatte den ausziehbaren Tisch für mich, der ganz bedeckt war von einer blauen Meereskarte aus Leinwand, auf der die riskantesten Seeschlachten geschlagen wurden, und ich besaß sogar einen Schlüssel und konnte mein Zimmer abschließen. Es brannte Licht. Ich sah das Licht durch die Ritzen schimmern und wußte da auch gleich, wer im Zimmer hochaufgerichtet neben dem Schrank stand mit festem, strengem Haarknoten und gekrümmten Lippen, ich sah meine Mutter durch die geschlossene Tür in all ihrer anmaßenden Starre, und als Vater öffnete, blieb ich ohne Überraschung auf der Schwelle stehen. Er stieß mich ins Zimmer. Er blickte erwartungsvoll auf Gudrun Jepsen, die sich nicht rührte, die mich ansah wie von weit her. Er wartete sehr lange, ehe er sagte: Da ist er, und danach schräg durch das Zimmer ging mit großer Beflissenheit, fragend auf meine Mutter sah, den Stock unter meinem Bett hervorzog, wieder fragend auf meine Mutter sah, und dann zurückkam und sagte: Runter mit den Hosen. Ich wußte, daß er das sagen würde, doch ich tat nichts, um seinem Befehl zuvorzukommen, ich zog meine Hosen aus, reichte sie ihm, sah zu, wie er die nassen Hosen sorgfältig glättete und auf den Tisch legte, bückte mich noch nicht, sondern wartete erst den Befehl: Bück dich!