Deutschstunde. Siegfried Lenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Siegfried Lenz
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783455810813
Скачать книгу
es vielleicht unter Komplizen tauscht, aber doch wohl kaum zwischen einem Psychologen und einem jugendlichen Gefangenen. Das Lächeln verwirrte mich, und ich brachte es nicht fertig, ihn schweigend abblitzen zu lassen, zumal er flüsternd weitersprach und flüsternd erläuterte, wie er sich die Tendenz seiner Diplomarbeit vorstellte: verteidigen wollte er mich, freisprechen und bestätigen; meine Bilderdiebstähle wollte er rechtfertigen, und die Gründung meiner privaten Galerie in der alten Mühle wollte er als positive Leistung anerkennen; überhaupt versprach er, in mir den Grenzfall herauszuarbeiten und für mich eine Rechtsprechung zu fordern, die es noch nicht gab. Der leise, rechtschaffene Fanatismus, mit dem er mir alles entwickelte, machte ihn glaubwürdig. Ich muß zugeben, daß unter den zwölfhundert dressurbesessenen Psychologen, die unsere Insel mitunter in eine wissenschaftliche Manege verwandelten, Wolfgang Mackenroth der einzige war, dem ich bereit war, wenn auch mit Vorsicht, mein Vertrauen zu schenken.

      Was mich nur ein bißchen an ihm störte, war, daß er zuviel von mir wußte. Er hatte meine Akte ganz gelesen, er war unterrichtet. Zuerst spielte ich mit dem Gedanken, ihm bei seiner Strafarbeit zu helfen und mir dabei seine Hilfe für meine Strafarbeit zu sichern, vor allem, wenn er sich bereitfinden würde, für den Nachschub von Zigaretten zu sorgen, doch als ich heraushörte, daß er mit Direktor Himpel beinahe befreundet war, ließ ich diesen Gedanken wieder fallen. Ich musterte ihn ausgiebig: das kleine blasse Gesicht, den schlanken Hals, seine zarten Hände; ich hörte kritisch auf seine Stimme, und obwohl er bei mir, je länger sein Besuch dauerte, nicht verlor, sondern noch gewann, sagte ich ihm, daß mir sein Angebot zu überraschend gekommen sei: Ich bedauerte. Ich erbat Bedenkzeit.

      Aber besuchen, sagte er, besuchen darf ich Sie doch von Zeit zu Zeit? Das erlaubte ich ihm, und um ihn loszuwerden, nickte ich auch zu seinem Vorschlag, mir hin und wieder, in unregelmäßigen Abständen, ausgewählte, vor allem wohl kritische Abschnitte aus seiner Diplomarbeit hereinzureichen – er sagte: hereinzureichen. Er bedankte sich. Hastig, als fürchte er, ich könnte mein Einverständnis widerrufen, zog er seinen Mantel an, sagte: Ich werde Sie nicht enttäuschen, Herr Jepsen, gab mir freundschaftlich die Hand, ging zur Tür und klopfte von innen, worauf Karl Joswig, ohne sichtbar zu werden, die Tür öffnete und den jungen Psychologen herausließ. Ich horchte auf seine Schritte, er ging weg, er hatte es eilig.

      Seitdem sitze ich an dem kerbenbedeckten Tisch und versuche, zur Geburtstagsfeier zurückzukehren, mich hinabzutasten an der Kette der Erinnerung, hier zu wohnen und dort zu sein, dort in Bleekenwarf, im Garten des Malers, unter feierlichem Meeresgetier, das auf das Abendbrot wartet. Ich könnte das Abendbrot auftragen lassen, ich könnte zunächst auch, vielleicht zu Ehren von Doktor Busbeck, einen großen Sonnenuntergang entwerfen, in dem Rot und Gelb sich pathetisch unterhalten, und schließlich ließe sich wohl auch in etwa achttausend Meter Höhe der Luftkampf beschreiben, der uns damals für einige Minuten beschäftigte, doch das alles kann nichts daran ändern, daß ich der erste war, der die Geburtstagsfeier verließ. Ich verließ sie nicht freiwillig.

      Wo war es? Wo schnappte sie mich? An der Schaukel, in der Laube, auf der Holzbrücke? Die blaue Fahne hatte ich jedenfalls in der Hand, und ich war auf der Suche nach etwas, der Wind hatte nachgelassen. Auf einmal stand meine Mutter vor mir, streng, sehr erregt, sie wollte etwas sagen und konnte es nicht, nur ein kurzes Stöhnen gelang ihr, und dann bleckte sie das gelbliche Gebiß, wie so oft, wenn sie außer sich war, wenn sie verletzt und enttäuscht war. Sie griff nach meiner Hand. Sie preßte meine Hand gegen ihre Hüfte. Ruckartig wandte sie sich um, warf den Kopf in den Nacken – gerade so weit, wie es der feste, mit Netz und Haarnadeln gesicherte und an eine glänzende Geschwulst erinnernde Haarknoten erlaubte, und riß mich mit aus dem Garten, aus dem Geburtstag. Mit ihrem erschreckenden Gang, der fast etwas Panisches hatte, lief die flache, hochgewachsene Frau mir voraus und zerrte mich über den Rasen, am Atelier vorbei über den Hof, immer noch ohne ein Wort und auch achtlos an dem Kulturfilm-Kapitän Andersen vorbei, der uns nichts anderes zugerufen hatte als: Bald gibt es was zu essen, und mit mir im Schlepp stieß sie das schwingende Holztor auf und stürzte über die lange, mit Erlen flankierte Auffahrt zum Deich, den wir gebückt erklommen und, ohne zurückzublicken auf Bleekenwarf, wieder verließen, indem wir zur Seeseite hinunterstolperten.

      Aus mittlerer Entfernung, denke ich mir, mußte Gudrun Jepsen etwa den Eindruck einer Mutter gemacht haben, die in überzeugender Verzweiflung mit ihrem Sohn in die Nordsee gehen will. Schon überlegte ich, was ich tun sollte, wie groß vor allem meine Verpflichtung war, Mutter watend durch die Brandung zu begleiten und mit ihr gehorsam vor der Wrackboje zu versinken, als sie wieder die Richtung änderte und unter dem Deich weiterging, unsichtbar jetzt für alle, die uns von Bleekenwarf nachgeblickt hätten. Sie ließ meine Hand los. Sie befahl mir, voranzugehen, und ich fragte sie, ohne mich umzudrehen, warum wir den Geburtstag so plötzlich verlassen hatten. Ich bekam keine Antwort. Da fragte ich sie, ob Vater auch den Geburtstag verlassen hatte oder gleich verlassen würde, und sie schnaubte leicht und schwieg. Sie schwieg, bis wir am rotbemützten automatischen Feuer waren, da sagte sie: Schnell, komm schnell, ich muß ein Beruhigungspulver nehmen, ich muß mich hinlegen, und danach überholte sie mich und achtete nicht mehr darauf, ob ich ihr noch folgen konnte.

      Aber ich hielt mich dicht hinter ihr, sprang neben ihr die Treppe hinauf und trat mit ihr zusammen in die Küche, wo sie gleich hinauflangte zu dem blanken, peinlich ausgerichteten Spalier der Reis-, Grieß-, Mehl-, Sago-, Graupenbehälter, die mit allem gefüllt waren, nur nicht mit dem, was die goldumrandete Aufschrift versprach; sie stülpte einen Behälter um, fischte sich aus einem Hügel von Röhrchen, Schachteln und Blechkästen eine kleine Spitztüte, deren Inhalt sie in ein Wasserglas schüttete und sitzend mit geschlossenen Augen trank. Ich stand neben ihr in angstvollem Gehorsam, zu dem sie mich gebracht hatte, und betrachtete sie interessiert und vorwurfsvoll: das spitze Kinn, die rotblonden Wimpern, die Nasenlöcher, die gekrümmten Lippen, und ich wagte nicht, sie zu berühren. Meine Mutter stemmte die Arme auf den Rand der Sitzfläche. Sie streckte ihren Körper. Für einen Augenblick hielt sie den Atem an. Ich fragte sie, ob das Pulver ihr schon helfe, und gleich darauf, ob ich zurückdürfe zum Geburtstag nach Bleekenwarf, und weil sie mir keine Antwort geben wollte, fragte ich, warum wir so schnell laufen mußten unter dem Deich. Jetzt sah sie mich aus schmalen Augen an, stand auf und befahl mir, ihr zu folgen.

      Wir gingen nach oben, an meinem Zimmer vorbei, stiegen auf den Boden und öffneten die Tür zur Bodenkammer, in der Addi wohnte. Da stand sein Pappkoffer. Auf dem Fensterbrett blinkte sein Rasierzeug. Ein Pullover lag da. Unter dem Schemel warteten neue Segeltuchschuhe auf schönes Wetter. Eine Schirmmütze, ein Schal, ein Stapel Taschentücher lagen auf der Kommode, und auf dem Kopfkissen des Bettes lag ein Buch »Wir nahmen Narvik«. Pack alles zusammen, sagte meine Mutter, und, weil ich mich nicht rührte: Pack alles in den Koffer. Nochmals mußte sie mich auffordern, Addis Sachen in seinen Pappkoffer zu legen, und als ich es dann tat unter ihren kontrollierenden Blicken, sagte sie leise: Wir dürfen nichts vergessen, er soll alles mitnehmen, alles. Sie reichte mir einen billigen, gewiß unbenutzten Fotoapparat zu und sagte: Steck den zwischen die Socken. Einen Schlips legte sie selbst zusammen und steckte ihn unter die Oberhemden. Wir falteten, knifften, preßten, stauten, bis nichts mehr in der Kammer an Addi erinnerte außer seinem Koffer; und als Gudrun Jepsen den Koffer aufnahm und hinaustrug, konnte niemand den Widerwillen übersehen, der ihre Hand versteifen ließ. Was dachte ich mir dabei? Ich dachte zuerst, daß sie Addi mit einem besseren Zimmer belohnen wollte, hoffte auch schon, ihn als Zimmergenossen zu bekommen; doch wir stiegen hinab bis zum Flur, und dort, neben dem Büro meines Vaters, ließ sie den Koffer aus Kniehöhe fallen, drückte ihn gegen die Wand und klopfte sich die Hände ab. Reist er ab? fragte ich, und sie, schon wieder beruhigt: Er hat hier nichts verloren, darum reist er ab; ich habe mit ihm gesprochen. – Warum, fragte ich, warum muß er abreisen? – Das verstehst du nicht, sagte meine Mutter und blickte durch das Fenster über das flache Land nach Bleekenwarf hinüber, und auf einmal, ohne sich zu bewegen oder die Stimme zu heben: Wir brauchen keinen Kranken in der Familie. – Reist Hilke auch ab? fragte ich da, worauf meine Mutter sagte: Das wird sich zeigen; bald werden wir wissen, welche Bande – sie sagte tatsächlich Bande – stärker sind.

      Ich sah nur in ihr strenges rötliches Gesicht und wußte schon, daß der Geburtstag beendet war, daß sie mir zumindest nicht erlauben würde, noch einmal nach Bleekenwarf zu gehen; darum nickte ich, als sie mich ins Bett schickte mit einer Mettwurststulle. Ich verdunkelte