terrane Manifestationen. Klaus Paschenda. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Paschenda
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783749782543
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ihr noch niemand ein Getränk angeboten. Das Gespräch lief überhaupt nicht wie von ihr angedacht. Neuer Versuch.

      „Um auf die Realitätswahrnehmung zurückzukommen. Ihre Kollegin hat angedeutet, dass es da einen Ansatz gäbe.“ Am liebsten hätte sie hinzugefügt: ‚Sie sind da sicher kompetent?‘ Aber der Mann war knochentrocken, hätte einen guten Juristen abgegeben.

      „Wir schauen in der Datenbank nach.“

      ‚Was sollte man sonst dazu sagen?‘ Maxim aktivierte die Wand neben ihnen, die sich augenblicklich in einen Screen verwandelte. Er tippte auf das Feld ‚akustische Eingabe‘ und forderte an: „Sinnliche Wahrnehmung von Realität, Literaturauflistung nach Relevanz bezüglich Erkenntnistheorie aufsteigend, schnelles Lesetempo!“

      Auf dem Screen raste eine Liste von Literaturstellen durch. Worte wie Physik, Biologie, Psychologie konnte Daphne gerade noch vorbeihuschen sehen. ‚So schnell kann doch kein Mensch lesen.‘

      „Das ist das, was uns bekannt ist“, kommentierte Maxim. „Ist Ihre Frage damit beantwortet?“

      „Nein, das bringt mich in der Sache nicht weiter.“

      ‚Ich kann auch kurz‘, dachte Daphne und fragte: „Wie lautet die Antwort kurz und knapp?“

      ‚Vielleicht muss ich das ein wenig erläutern‘, überlegte Maxim, ‚etwa wie für die Presse.‘

      Er holte tief Luft und begann: „Nach der ersten Recherche von Watsons Kindern waren es circa Dreihunderttausend Zitate. Eine Schlüssigkeitsanalyse auf hermeneutischer Basis reduzierte das auf weniger als hundert. Davon waren die meisten inhaltlich mehr oder weniger deckungsgleich. Die kürzeste und aus heutiger Sicht brauchbarste Formulierung ist die des hypothetischen Realismus:

      Wir nehmen an, dass es eine reale Welt gibt, dass sie gewisse Strukturen hat und dass diese Strukturen teilweise erkennbar sind, und prüfen, wie weit wir mit diesen Hypothesen kommen.38

      Das ist es.“

      Maxim lehnte sich ein wenig zurück. ‚Ob sie jetzt Ruhe gab? Das war doch nun sehr ausführlich.‘

      „So einfach kann das nicht sein. Aber erst, wer sind Watsons Kinder?“

      „Watsons Kinder sind unsere KI“, beantwortet Maxim die Frage.

      Daphne wollte das genauer wissen: „Was hat Ihre KI mit Kindern zu tun? Lautet der Satz ausführlich ‚Watsons Kinder sind unsere Kinder‘?“

      Maxim überlegte, was er offen legen sollte. Da das Gespräch als geheim klassifiziert war, antwortete er: „Wir helfen der IBM gelegentlich und sind dafür Premiumkunde. Unsere KI benutzt unter anderem das Programm Watson von IBM, daher der Name.“

      ‚Gut‘, dachte Daphne, ‚wir wissen schon lange, dass sie ihre KI vornehmlich bei IBM kaufen.‘

      Sie kam auf das eigentliche Thema zurück: „Zu Ihrem Zitat. Das Problem wird so nicht gelöst. Man nimmt nur an, man hätte eine Lösung. Wir nehmen an, dass wir den Tisch so erkennen, wie er ist, solange wir nicht eines Besseren belehrt werden. Wissen Sie, wie unbefriedigend das ist? Ein anderes Beispiel, kein Tisch: Jemand wird wegen einer Straftat angeklagt. Aus verschiedenen Perspektiven sehen der Sachverhalt, die Tatsituation unterschiedlich aus. Wir wissen nicht, ob er die Tat begangen hat, sondern können nur vermuten. Mit Ihrem Zitat ginge das dann so weiter: Wir nehmen einfach an, dass der Angeklagte die Tat begangen hat und verurteilen ihn, bis wir eines Besseren belehrt werden. Mit der Annahme kommen wir gut weiter.

      Genauso könnten die Verteidiger argumentieren: Wir nehmen kurzer Hand an, dass der Angeklagte die Tat nicht begangen hat, und verurteilen ihn nicht, was übrigens das Unschuldsprinzip ist, bis wir eines Besseren belehrt werden. Das könnte beispielsweise ein weiterer Mord sein.

      Zurück zum Tisch: Ein Skeptiker kann genauso gut argumentieren, wie der Verteidiger. Wir nehmen an, dass wir den Tisch nicht erkennen, wie er ist, solange wir nicht eines Besseren belehrt werden. Können Sie mir denn erklären, warum der hypothetische Realismus dem angedeuteten Skeptizismus vorzuziehen ist?“

      Das gefiel Maxim, das waren Aussagen, mit denen im Kopf gespielt werden konnte: „Ihre Analogie zur Juristerei erläutert das Problem. Sie haben Recht, dass der vorgestellte Ansatz keine Lösung des Problems ist. Wir haben auch keine. Nur so müssen wir nicht täglich verzweifeln. Der naive Realismus, wie wir ihn täglich leben, geht davon aus, dass wir die Dinge wahrnehmen, wie sie sind. Wenn wir sagen, dass unsere Wahrnehmung sich am hypothetischen Realismus orientiert, soll im Kern nur gesagt werden, dass wir uns der Tatsache bewusst sind, dass das, was wir erkennen, nicht garantiert eine Eigenschaft der jeweiligen Wirklichkeit ist. Wir Realisten sind immer auf der Hut vor Sinnestäuschungen.

      Als Skeptizisten, die alles und jedes bezweifeln, bekämen wir kaum was zu essen. Da kommt von hinten der pragmatische Gedanke ins Spiel.

      Und: In Ihrem Beispiel würde ich den Angeklagten verurteilen, damit nicht ich morgen im Grab liege.“

      Daphne war erstaunt. Ihr Gegenüber schaffte mehr als drei Sätze. Sie warf ein:

      „Über Letzteres könnte trefflich gestritten werden!“

      Maxim fuhr fort: „Als Naturwissenschaftler, wenn ich diesen alten Begriff benutzen darf, haben wir folgende Aussagen immer im Kopf: Wer misst, misst Mist! Und: Wer denkt, er denkt, der denkt nur, dass er denkt.

      Im Kern: Mit den besten Methoden der Physik kommt der Mensch der Wirklichkeit nicht näher. Da hilft kein Messgerät, das wir ablesen können. Es bleibt der Mensch das schwächste Glied in der Kette der Erkenntnis von Wirklichkeit.

      Ergänzend ist zu erwähnen, dass es in der Quantenphysik Phänomene gibt, wo erst durch das Wahrnehmen eines Objektes der Zustand des Objektes festgeschrieben wird.

      In die Juristerei übertragen bedeutet das: Wenn ein Mensch auf die Anklagebank gesetzt wird, erzeugt dieses Setzen schon fast die Tatsache, dass er schuldig ist. Weil das aber nicht rechtens sein kann, wird dann das Unschuldsprinzip auf den Tisch gelegt. Nur kann gefragt werden, was psychologisch das größere Argument ist.“

      ‚Das war es‘, dachte Maxim. ‚Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.‘

      Daphne fasste zusammen: „Eine überzeugende Lösung für das Wahrnehmungsproblem gibt es nicht. Die Kantsche Grundfrage ‚Was kann ich wissen?‘39 bleibt im Kern unbeantwortet. Es bleibt also, mit der täglichen Wahrnehmung zurückhaltend, hinterfragend umzugehen.

      In Anlehnung an Sokrates heißt das: ‚Ich erkenne, dass ich es nicht erkenne.‘40 Tiefer geht es kaum.“

      Maxim nickte zustimmend. Die Sache war abgehandelt. Über Manifestationen wollte er jetzt nicht reden.

      Die eigenartige Reflexivität von ‚ich weiß, dass ich nichts weiß‘ verunsicherte Daphne. Wenn wir nicht wissen, was wir wissen können oder was wir erkennen können, hat die Technik ein Problem. Sie stellte die Frage:

      „Wie sicher ist denn das Wissen Ihrer KI, das Wissen von Watsons Kindern? Eigentlich wissen die doch auch nichts. Sie verlassen sich aber darauf. Oder ist das nur ein scheinbares Vertrauen auf die Maschine? Ist da nicht ein Widerspruch?“

      ‚Das ist doch klar‘, dachte Maxim und brachte es kurz auf den Punkt:

      „Die KI hat eine Menge an Informationen, die der Mensch beschafft hat. Damit ist diese Menge so sicher oder unsicher wie jede menschliche Erkenntnis. Es ist, anders formuliert, die Niederschrift von Erkanntem, von letztlich aber immer zu Bezweifelndem. Möchten Sie jetzt über maschinelle Wahrnehmung sprechen?“

      Kaum hatte er den Mund geschlossen, schoss es ihm durch den Kopf: ‚War das zu kurz, war das unhöflich? Ich soll nett sein, hat Schwesterchen gesagt.‘ Er überwand sich:

      „Sie stellen interessante Fragen. Wären Sie bereit, zu einem gemeinsamen Essen mit einigen von uns? Wir würden uns freuen.“

      Damit hatte Daphne gar nicht gerechnet. ‚Eine Einladung zu einem knochentrockenen Essen?‘ Sie wußte nichts von den kulinarischen Vorlieben