Quelle: „Klassenspiegel“, 1929. In: NLB
Hugo Bendiek
Quelle: „Klassenspiegel“, 1929. In: NLB
Hubert Hinterding
Quelle: „Klassenspiegel“, 1929. In: NLB
Abitur 1929 am Dionysianum Rheine. Ludwig Bitter: vorderste Reihe ganz rechts.
Quelle: Sammlung Greiwe, Rheine
Schepers (links), Hinterding (rechts), o.J.
Quelle: Sammlung Greiwe, Rheine
So war es wohl auch eine Frage der Gewohnheit und Bequemlichkeit, dass man in vertrauter Männerrunde blieb.
Erst Jahrzehnte später bekannte sich Hubert Hinterding gegenüber Hugo Bendiek dazu, schon immer homosexuell gewesen zu sein. Er beklagte die einstige Sprachlosigkeit der Drei über wahre Gefühle.32 In ähnlichem Sinne wies er einen der Brüder Bitters kaum verhohlen darauf hin, dass er sich als Gymnasiast zu Ludwig als seinem Banknachbarn primär aus nicht-intellektueller Motivation hingezogen fühlte. Dieser habe seine emotionale Zuneigung jedoch weder gespürt, geschweige denn erwidert.33 Ganz so einfach, wie Hinterding meinte, war es jedoch nicht. Kaum hatte Bitter sein Studium in Münster aufgenommen, sehnte er sich nach einem echten Freund und notierte einen einzigen Namen – den Hinterdings, mit Fragezeichen.34 Von Bendiek musste sich Hinterding anhören, seine bittere Abrechnung mit der Vergangenheit wie der Gegenwart führe zu nichts.
Hinterdings allgemeine Unfähigkeit zur zwischenmenschlichen Kommunikation, nicht aber eine von ihm - Bendiek und anderen - gar nicht vertretene Feindseligkeit gegenüber Homosexuellen sei schuld an der von Hinterding beklagten Flachheit sozialer Kontakte.35 Womöglich wussten Bendiek wie Bitter längst, d.h. seit Abiturzeiten Bescheid von Hinterdings Grundproblem. Bitter notierte damals: „Und Hubert? Ja[,] was ist in Hubert gefahren? Und das haben wir solange nicht gesehen? Ganz nicht, aber doch kannten wir ihn. Jetzt kenne ich ihn. Ganz, seine Jugend, sein Schicksal, sein Denken und [unleserlich].“36
Die von Hinterding beklagte Sprachlosigkeit des Trios in puncto Gefühle ist damit allerdings nicht widerlegt. Dazu passt eine Sentenz aus Bitters Notizbuch: „9.) Die Liebe zwischen den Menschen, erst recht Mann zu Mann, das grosse Thema! Wie die Kälte und Entfremdung überwinden?“37
1929 waren Bendiek und Hinterding studienhalber nach Wien gezogen. Bendiek blieb dort für zwei Semester zum Studium der Philosophie, Germanistik und Romanistik (Französisch). Das dritte Semester verbrachte in Königsberg. Dort „erfuhr er ein kurzes Glück in der Liebe zu einer Studentin“.38 Weiter zog es ihn nach Paris, wo er in die französische Literatur und Philosophie eintauchte. Seinen Abschluss als Doktor der Philosophie machte er schließlich als Assistent von Professor Peter Wust in Münster.39
Hubert Hinterding wechselte nach den zwei Wiener Semestern an die Universität Münster, wo er Musik studierte. Er strebte eine Karriere als Konzertpianist mit Doktortitel an.40 Dann aber ließ er es bei einer Abschlussprüfung zum Privat-Musiklehrer bewenden. Ein undatiertes, 89 Seiten starkes Werk, die „Tanz-Fantasie für kleinen Chor und kleines Orchester nach Versen aus den 'Sonetten an Orpheus' von R. M. Rilke“, dürfte sein Examenswerk darstellen.41 Im Sommersemester 1933 nahm er wieder das Studium in Münster auf. Nun war er zur Germanistik und von der anvisierten Musikerkarriere in Richtung Gymnasiallehrer gewechselt. Ein halbes Jahr danach war er der SA als Anwärter beigetreten.42 Der Eintritt in die SA war vermutlich die Erfüllung einer unumgänglichen Bedingung für den Abschluss des Studiums.43 Exmatrikuliert wurde Hinterding jedoch im Sommer 1935, ohne den zweiten Abschluss erlangt zu haben.44 Er ging nun seinem Broterwerb als selbständiger Musiklehrer und Komponist im Umkreis Rheines nach.45
Als Ludwig Bitter das Dionysianum mit dem Abiturzeugnis in der Tasche verließ, hatte er Französisch, Spanisch, Griechisch und Latein mit einigem Erfolg gelernt. Später folgten noch Russisch und Englisch. Auf dem Zeugnis wurde vermerkt, er wolle Volkswirtschaft studieren.46 Davon war bald keine Rede mehr. Bitter hatte ein Faible für Geschichte, Fremdsprachen und Literatur. Zeitweilig liebäugelte er mit dem Berufsbild eines Schriftstellers.47 Mitte April 1929 meldete er sich nach Berlin ab.48 In der Reichshauptstadt suchte er wahrscheinlich Kontakte zu politisch Gleichgesinnten.
Friedrich Fütterer, Foto vom Entwurf seines Reifezeugnisses, Hessisches Realgymnasium Mainz, 16.02.1928
Quelle: Stadtarchiv Mainz, Bestand 201, 651: Zeugnis Fütterer
Vielleicht kannte er damals schon Friedrich Fütterer, einen kommunistisch eingestellten Medizinstudenten der WWU Münster. Der Sohn eines Fabrikdirektors49 wollte just im Sommersemester 1929 sein Studium in Berlin fortsetzen.50
Eigentlich sollte man meinen, dass Bitter ähnliche Pläne verfolgte. Nach gerade einmal drei Tagen in Berlin aber schrieb er sich er an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster ein, wo er Veranstaltungen in Germanistik, Philosophie, Geschichte, Politik und Publizistik belegte.51
Berlin war für ihn ein Schock. Offensichtlich verkraftete er die übergangslose Umstellung auf das Weltstadtgetriebe nicht. Völlig niedergeschlagen notierte er auf seiner Münsteraner „Bude“: „An Selbstmord dachte ich.“52 Zwar beruhigte er sich etwas, doch quälte ihn weiterhin eine allgemeine Unzufriedenheit und Unruhe. Studienziel war nun wohl der Doktortitel in Publizistik (Zeitungswissenschaft).53
Doch kaum kam das Ende des ersten Semesters in Sicht, schrieb Bitter seinen Eltern einen Brandbrief des Inhalts, er könne „unmöglich weiterstudieren“.54
Wohlweislich bat er Vater und Mutter schon in seinem Einleitungssatz, sich nicht zu erschrecken und aufzuregen. Sicher nur ein frommer Wunsch. Aus Elternsicht wiederholte sich das Drama von 1926. Ihr durchaus talentierter Spross verweigerte zum zweiten Mal die Mitarbeit an einer aussichtsreichen beruflichen Zukunftsplanung. Dieses Mal waren seine Argumente für den Studienabbruch zahlreicher und zielgerichteter als drei Jahre zuvor auf die Empfänger zugeschnitten. „Ich gehe täglich 3 Stunden zur Universität, schreibe mit und kann doch gar nichts gebrauchen. Und dabei hab ich nicht die geringste Lust, vielmehr einen Widerwillen dagegen. Und dafür sollt ihr das schwere Geld ausgeben?“
Bitter wurde aber auch grundsätzlicher: „Die Jahre auf dem Gymnasium haben mir ungeheuer genutzt. Sie haben mir ja gerade zum Bewußtsein gebracht, wie ungerecht es in der Welt zugeht. Millionen und Abermillionen schuften für ein paar Pfg. [Pfennige] – und müssen auch eine Familie unterhalten. […] Bei jedem Bissen, den ich verzehrte, mußte ich an sie denken. Wenn ihr einen nur verstehen könntet. Wir sind und müssen ganz andere Menschen sein.“ Und: „Ich habe ja nie die Absicht gehabt etwas zu werden und Geld zu verdienen. Ist es denn eine Schande, ein einfacher Arbeiter zu sein?“ Er erinnerte seine Eltern daran, dass sie ihn doch nur das Abitur hätten machen lassen, weil sie immer noch auf seine Hinwendung zum Priesterberuf hofften. Aber diese Hoffnung müsse er wohl ein für allemal enttäuschen. Als Geistlicher wäre er bestimmt ein Missionar geworden, der auch nur wenig verdiene und seine Eltern aus der Ferne kaum unterstützen könne. Er wolle nun selber seinen Mann stehen, als „Missionar unter den Arbeitern“.55
Wie er seine Argumentation auch drehte und wendete, seine Eltern gaben nicht nach. Bitter beugte sich ihnen schließlich und setzte sein Studium fort. Doch gründete er nur Tage später im Juli 1929 mit anderen Kommilitonen den „Freien Sozialistischen Studentenbund“ [FSSB] an