Schon als Gymnasiast hatte er nach dem richtigen Weg durch das Leben gesucht - im Glauben wie in Gesellschaft und Politik. Seine Antworten auf drängende Fragen des öffentlichen Lebens und der persönlichen Lebensgestaltung fielen im Laufe der kurzen ihm verbliebenen Lebensspanne unterschiedlich aus. Sie kreisten ebenso um das Verhältnis von tradiertem christlichen Glauben und modernem Kommunismus wie um die eigene Wahrhaftigkeit im Reden und Handeln.
Sein Lebensweg führte ihn über das elterliche Textilgeschäft in Ibbenbüren, die Kommunistische Partei (KPD) an seinen Studienorten Münster und Königsberg schlussendlich in linkskatholische pazifistische Kreise der Weimarer Republik. Mit einigen ihrer führenden Vertreter stand er in Verbindung.
Die Machtübernahme und brutale Durchsetzung des Nationalsozialismus in den ersten Monaten des Jahres 1933 beendete Bitters berufliche Laufbahn abrupt, kaum dass sie begonnen hatte. Am Dienstort Ibbenbüren wurde der angehende Pädagoge Bitter im Juli 1933 verhaftet. Weitere Haftstationen waren Recklinghausen und Siegburg. Von dort gelangte er über das KZ Brauweiler bei Köln in das neueröffnete KZ Neusustrum im Emsland.
Nach seiner Freilassung Anfang November 1933 schlug er sich in den nächsten Jahren mit Nachhilfestunden in Ibbenbüren durch, um schließlich 1938 nach Hamburg überzusiedeln. Die katholische Marien-Gemeinde stellte ihn als Lehrer ein. Später erarbeitete er für sie einen geschichtlichen Abriss zur Entwicklung der katholischen Schulen Hamburgs.
1940 zog ihn die Wehrmacht zum Kriegsdienst ein. Er diente an der Kanalküste. Im Mai 1942 wurde er Richtung Osten in Marsch gesetzt. Bei Kämpfen in der Nähe von Woronesch3 verwundet, starb er Ende September 1942 im Lazarett in Kursk - in der Sowjetunion, in eben dem Land, dem einst als KPD-Agitator und Student sein Hoffen und Sehnen gegolten hatte.
Er war ein politischer Mensch im weitgefassten Sinne, der sich theoretisch wie praktisch politisch, sozial und kirchlich engagierte – soweit die Verhältnisse dies zuließen. In der Bandbreite seines Denkens wie der Entschiedenheit seines Handelns stach er als weit links stehender Akademiker von den meisten seiner Mitstudenten und Mitstudentinnen deutlich ab, die eher – wenn überhaupt politisch engagiert – auf Seiten der nationalen Rechten oder der NSDAP fochten.
„Ludwig Bitter – der Antifaschist.“ Bescheinigung des Amtsdirektors, Amt Ibbenbüren, 23.10.1946
Quelle: NLB
Ludwig Bitter blieb, bei allem jugendlichen Eifer und Überschwang, sich selbst wie anderen gegenüber überaus kritisch bis hin zur Selbstquälerei und immer wieder erneuerten Anfragen an seine Überzeugungen. Ob er es wollte oder nicht, er konnte letztlich immer nur unorthodox sein.
Seine Gratwanderung zwischen katholischem Christentum und stalinistischem Kommunismus ist heute nur mehr von historischem Interesse, wenngleich auch in der Welt nach 1945 das Verhältnis von Kommunismus und Christentum noch länger diskutiert wurde. Besonders die Befreiungstheologie Lateinamerikas mit Vertretern wie Boff und Cardenal machte lange von sich reden. Im Osten Deutschlands gab es eine Annäherung der Christen an die DDR unter dem Leitmotiv der „Kirche im Sozialismus“. Auch im Westen Deutschlands und Europas regten sich nach 1945 dann und wann zarte Hoffnungspflänzchen.4 Sozialistische, christliche und pazifistische Strömungen kamen zusammen in verschiedenen Fortführungen des bis 1933 recht vitalen Linkskatholizismus, dem Ludwig Bitter nach seinem Abschied von der KPD zugeneigt hatte.
Manche dieser Ansätze lebten nach 1945 wieder auf. Von Gewicht war der Pazifismus, der auch nach 1945 genügend Aktionsfelder fand – sowohl in der Bundesrepublik Deutschland wie international. Man denke nur an die Rüstungsdebatten und die Massendemonstrationen gegen atomares Wettrüsten in den Achtziger Jahren.
Bitter war in den Erinnerungen an seine Haftstätten unter Hitler ein genauer, erstaunlich unvoreingenommener Beobachter des faschistischen Unterdrückungsapparates. Manche Mithäftlinge werden von ihm näher charakterisiert, so dass auch deren Schicksal in der einen oder anderen Form wieder in das historische Gedächtnis Eingang finden kann. Seine Briefe und sein Bericht vom Marsch durch Polen und die Ukraine und den Kämpfen an der Ostfront unterscheiden sich von der üblichen Landser - Prosa aus jenen Landstrichen und Zeiten.5
Insbesondere aber verdient Ludwig Bitter Erwähnung und Erinnerung, weil er sich durch die Haftzeit und die schweren Jahre danach nie von den widrigen Umständen hat entmutigen lassen, die er durchleben musste.
Schließlich hat es in seinem Fall lange, eigentlich zu lange bis zu einer angemessenen Würdigung gedauert. Selbst in seinem Heimatort Ibbenbüren dürfte er nach 1945 so gut wie unbekannt geblieben sein. Dieses Schicksal teilt er mit einigen anderen, die Opfer der Nazi-Diktatur wurden.
Umso erfreulicher ist, dass die Westfälische Wilhelms-Universität Münster in einem breit angelegten Projekt das Schicksal solcher Querdenker und Widerhaken im System untersucht und die Ergebnisse veröffentlicht hat.6
2. Vom Sohn aus gutem Hause zum bolschewistischen Bürgerschreck
Textilkaufhaus Bitter, 1995
Quelle: Sammlung Stadtmuseum Ibbenbüren
Der am 4. oder 5. März 1908 in Ibbenbüren geborene Friedrich Ludwig Bitter7 entstammte einer Familie von Textilkaufleuten. Drei Generationen der Familie Bitter betrieben das angesehene Textilkaufhaus gleichen Namens, dessen Gründung auf Ludwigs Mutter Martha und Vater Ludwig sen. zurückgeht. Ludwig hatte sieben Geschwister.
Die Kriegsjahre 1914-1918 hatte die Familie wie viele andere noch in einiger Not verbracht.8 Diese Notzeit zählte zu Bitters frühesten Kindheitserinnerungen. Als Zwanzigjähriger notiert er: „Dann steht vor meinem Auge klar die schwere Zeit während der letzten Jahre des Krieges und nach dem Kriege. Wie wir in Wind und Wetter hinausgingen zu den Bauern und um ein Ei und […] Butter flehten. Ich entsinne mich gut eines Wintertages, an dem ich mit meinem Bruder Hubert nach Püsselbüren zum Hamstern ging. Kniehoch und stellenweise noch höher lag der Schnee. Die ganzen Jahre haben wir selbst unser Brennholz aus dem Berg geholt.“9
Bescheiden waren die Anfänge des Bitter'schen Textilhandels: „Unser Vater hatte in Greven eine Stellung bekommen. Wie er zu dem Entschluss kam, weiss ich nicht, aber bald brachte er Inlettreste mit, die unsere Mutter unter der Hand erkaufte. So entwickelte sich nach und nach unser Geschäft.“10
Nach den ersten vier Klassen an der katholischen Volksschule wechselte Ludwig zur Ibbenbürener Amtsrektoratschule. Nachdem er die achte Klasse absolviert hatte, verließ er die Schule vorzeitig wegen einer nicht näher dokumentierten schweren Erkrankung. Sie dauerte ein Jahr. Die Rekonvaleszenzzeit sollte ein ganzes weiteres Jahr erfordern. Danach trat Ludwig Bitter in das elterliche Textilgeschäft ein. Doch nicht für lange: „[…] auch in unserm Geschäft konnte ich's nicht aushalten.“11
Martha und Ludwig Bitter sen. mit ihren Kindern., o.J. Ludwig Bitter jun. steht hinter seiner Mutter
Quelle: Sammlung Stadtmuseum Ibbenbüren
Ob nun durch den Wunsch der Eltern, insbesondere der Mutter, gedrängt oder aus eigenem Antrieb oder in einer Mischung von beidem - Ludwig Bitter wollte jetzt katholischer Priester werden. Jeden Abend ging er nach Geschäftsschluss in die Kirche. Im Rückblick des Jahres 1928 empfand er diese Zeit als „eigenartige Periode“.12
Zwar freute es die Eltern, dass ihr Sohn ein klares Berufsziel vor Augen hatte. Umso mehr, weil sie als fest im Glauben verwurzelte Katholiken diesen Weg nur gutheißen konnten. Doch sollte ihre Freude schon bald wieder geschmälert werden - durch Ludwig selbst.
Dieser hatte zwar 1924 nach nur sechs Monaten Vorbereitungszeit durch Privatstunden bei einem Lehrer Richter und bei Lehrer Mersmann