In diese Einschätzung des Zeitzeugen, der die Zeit der Weimarer Republik frühestens in ihren allerletzten Jahren bewusst miterlebt haben konnte, fließt sicher manches ein, was er damals von seiner deutschnationalen Umgebung zu hören bekam.125
2. Kongress der Kommunistischen Internationale in Moskau, 17.07.1920 Gruppenaufnahme: Levi, Paul; Trotzki, Leo Davidowitsch; Kamenjew, Lew; Sinowjew, Grigorij; Radek, Karl. Quelle: AdSD/FES, 6/FOTA007403
Ludwig Bitter hingegen notierte: „Ich habe mich entschlossen zum Kampf. Damit stelle ich mein Leben in den Brennpunkt. Möge es mich schmelzen und verglühen, ehe aus mir eine Form geworden.“126
Ein erster Höhepunkt sollte die Sprengung des Münsteraner Rosenmontagszugs am 3. März 1930 werden. Anfang 1930 hielt die Weltwirtschaftskrise Deutschland fest in ihrem Griff. Die Arbeitslosenzahlen stiegen rasant an. Die Aktion passte in den größeren Rahmen einer über Jahre immer wieder aufgegriffenen Erwerbslosen-Kampagne der Partei, mit der sie auf das Schicksal von Millionen Arbeitsloser drastisch aufmerksam machen wollte.127 Auch im Kreis Tecklenburg, zu dem Ibbenbüren gehörte, kam es später zu Demonstrationen Erwerbsloser, hinter denen die KPD stand.128
Vor dem Rosenmontag 1930 hatten kommunistische Aktivisten vor dem Arbeitsamt Münster Handzettel verteilt, in denen sie die Arbeitslosen zu einer Demonstration gegen den „bourgesisen [lies. bourgeoisen = kapitalistischen]] Karnevalsbetrieb“ am Ludgeritor aufriefen.129
Rosenmontag, Münster 1930
Quelle: Stadtarchiv Münster, SLG-FS-WVA-17550/Fotograf(in): Hülsbusch
Die karnevalistische Stimmung in Münster war 1930 eingetrübt. Nicht nur eingefleischten Kommunisten war wenig nach Feiern zumute. Auch im Stadtrat bzw. der Stadtverwaltung herrschten einige Bedenken.130 Andererseits hatten die Münster'schen Karnevalisten geschlagene 16 Jahre lang keinen Rosenmontagszug durchführen können. Man sehnte sich nach Normalität und sah den Karneval auch als Wirtschaftsfaktor.131
Zum Münsteraner Rosenmontag 1930 strömten viele Karnevalstouristen aus anderen deutschen Städten und Ostholland. Der Zug – Prinz war Pinkus Müller - führte über den Ludgeri-Platz. In dessen Mitte hatten sich KPD-Mitglieder – einige angeblich auch von auswärts - und Arbeitslose versammelt, um ihre Kundgebung abzuhalten.
Die Polizei schritt dagegen ein und versuchte, die Demonstranten zu vertreiben, was ihr aber nicht ganz gelang. Als hartnäckige Speerspitze des KPD-Trupps erwies sich Ludwig Bitter. Er erklomm die Statue des Pferdes im Denkmalensemble auf dem Platz. Von dort aus hielt er eine Ansprache an Karnevalisten und Kommunisten. Der genauere Inhalt ist weder in der Lokalpresse noch in seinen eigenen Aufzeichnungen zu finden. In den Zeitungen kommt Bitters Name nicht vor.132
Die „Münstersche Zeitung“ erwähnt, der Denkmalstürmer sei Student gewesen und habe für die Kommunisten gesprochen.133
Der „Münsterische Anzeiger“ schreibt von einem „Unzufriedenen“, der mit Unterstützung Gleichgesinnter „seinem Unwillen über die Geldverschwendung zuungunsten der hungernden Arbeitslosen Ausdruck gab“.134
Nach massivem Gummiknüppeleinsatz gelang es der Polizei, Bitter trotz Widerstandes seiner mit Spazierstöcken bewaffneten Genossen vom hohen Ross herunterzuholen. Er wurde als einziger von allen Protestlern festgenommen.
Bis zum nächsten Tag blieb er in Polizeigewahrsam. Nun drohte ihm, wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt vor Gericht gestellt zu werden. Auch dem Rektor der Universität Münster wurde Mitteilung gemacht.135
Ludgeriplatz, Denkmal „Ross und Landmann“ , o.J.
Quelle: Stadtarchiv Münster, SLG-FS-WVA-16256 017/Fotograf(in): o. Ang.
Ein Ausschluss Bitters vom Studium lag im Bereich des Möglichen. Am meisten machte er sich aber Vorwürfe wegen der Sorgen seiner „lieben, harmlosen Eltern“, die ihn aus der Haft abholen kamen. Und er sah schon jede Form angestrebter Selbständigkeit schwinden:
„Nun eß ich meiner Eltern Brot und warte auf den Prozeß.“136
Die Angelegenheit dürfte für ihn noch einmal glimpflich ausgegangen sein. Bitters Studienbuch aus jener Zeit verzeichnet jedenfalls keine nachteiligen Einträge. Im Verzeichnis der Disziplinarfälle an der Universität findet sich zwar für 1930 sein Name samt Aktensignatur. Doch ist die dazugehörige Akte selbst unauffindbar.137 Ein Gerichtsurteil scheint ebenfalls nicht ergangen zu sein
Ludwig Bitter, o.J.
Quelle: NLB
3. Sinnkrise in Königsberg
Reichstagswahl, KPD-Wahlplakat, 1930
Quelle: BArch, PLAK 102-073-007
In den folgenden Monaten des Jahres 1930 dürfte Bitter in sich gegangen sein. Sein Tagebuch schweigt zwar zu allem, was zwischen April und Oktober geschah. Dann aber meldet sich sein Schreiber wieder und hält rückblickend fest, dass er Mitte Juli wieder in die Partei eingetreten sei.138 Er fühle sich in mancherlei Beziehung gereifter, kälter, härter als vorher. Und flugs skizziert er einen verwegenen Plan: „[…] ob ich nun in der Partei ein Führer werde von Millionen Menschen, ob ich ein religiöser Reformator werde des katholischen Glaubens. Eins steht fest. Ich will und werde von jetzt an mit allen Kräften auf dieses Ziel hinarbeiten, d.h. auf das Führerziel [unterstrichen von LB]. Führer müssen bekannt werden. Dazu ist mir alles recht, was nicht unrecht ist. Ich will Einfluß gewinnen. Weil ich weiß, daß ich Menschen beeinflussen kann, weil ich weiß, daß ich das leben kann, was ich predige […]. So bin ich kein Privatmensch mehr, der machen kann, was er will. Was mir das Schicksal […] auch bringen wird [-] an jeder Stelle, wo ich stehe, will ich ein Mahner und Führer sein für das Recht.“139
Schon vorher, kurz nach seinem Wiedereintritt in die KPD, hatte er sich für die Partei nach seinen eigenen Worten geradezu aufgeopfert - im Reichstagswahlkampf des Jahres 1930: „[Ich] habe tatsächlich mit den ärmsten Proleten gelebt, habe leidenschaftlich zu Barackenproleten140 gesprochen, bin in ihren Höhlen gewesen, habe von Frauen Dankesworte bekommen, von Proletenfrauen, habe vor hunderten von Menschen gesprochen, auf Straßen und Plätzen, […] habe gesprochen, wie ich immer sprechen wollte […]. Wenns nach mir ginge, gäbs bei uns in der Partei immer das Leben wie vor der Wahl. Die Wahl brachte uns – in Münster – einen großen Sieg.“141
Auch im Gesamtergebnis der Wahlen vom September 1930 hatte die KPD reichsweit deutlich zugelegt. Nur blendete der begeisterte Wahlkämpfer Bitter samt seiner Partei aus, dass der Hauptprofiteur der Wahlen die NSDAP war.
Beschwingt vom Lauf der allgemeinen Politik wie des persönlichen Lebens exmatrikulierte sich Bitter Ende Oktober 1930 in Münster, um zum Wintersemester 1930/31 sein Studium an der Universität Königsberg fortzusetzen. Sein Umzug an den Ostrand des Deutschen Reiches verfolgte mehr oder weniger deutlich ausgesprochen zwei Ziele. Erstens, die russische Sprache und Kultur in der Nähe ihres Verbreitungsgebietes zu studieren. Zweitens, nach dementsprechender Vorbereitung für längere Zeit in die Sowjetunion überzusiedeln.142 Kenntnisse im Russischen hatte er unter Anleitung eines „russischen Lehrers“ erworben.143
Königsberg, Dominsel mit Dom und Universität, ca. 1929
Quelle: BArch,