Die Wellen des Franzosenhasses schlugen hoch, nicht nur im Ruhrgebiet. Die Flaggen standen im ganzen Reich auf Halbmast, der Protest war lang schon zu einem nationalen Anliegen geworden.
Am 13. Januar hatte die Reichsregierung im Reichstag den passiven Widerstand verkündet. Alle Reparationsleistungen an Frankreich und Belgien wurden eingestellt, und die deutschen Behörden und Zechenbesitzer erhielten strikte Anweisung, den Besatzungsmächten jegliche Zusammenarbeit und Unterstützung zu verweigern. Die Folge: Die komplette Industrie lag brach. Wieder und wieder kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Franzosen und Deutschen. »Gestern sollen die Franzosen auch in Bochum eingerückt sein. Aber die haben’s ihnen gezeigt!«, verkündete Elsa Kleinschmitt beim wöchentlichen Nähkränzchen im Alten Schulhaus, während sie mit der ihr eigenen Vehemenz auf das zu bestickende Deckchen einstach, das auf ihren Knien lag. »Das haben die sich nicht gefallen lassen, die Bochumer. Sie haben gesungen: Siegreich wollen wir Frankreich schlagen. Jawohl!« Zufrieden biss sie ein Stück Faden ab, eine Geste, mit der sie das Gesagte zu bekräftigen pflegte. Doch es war weniger diese altbekannte Geste als vielmehr Elsas Aussage, die Johanna reizte.
»Ich finde dieses Siegeslied viel unbedeutender als die Tatsache, dass ein 17-jähriger Schüler ums Leben kam, als die Franzosen in die Menge schossen«, wendete sie ein.
»Ja«, ließ sich Johannas Mutter Helene vernehmen und fügte mit einem spitzen Blick auf ihre Schwester Sophie betont laut hinzu: »Und von Luise höre ich, dass sie in Essen einer jungen Frau die Haare abgeschnitten haben. Sie ist selbst schuld, mit zwei Franzosen soll sie im Kino gesehen worden sein.«
Sophie warf ihr einen bösen Blick zu, pfefferte ihr Nähzeug in den Korb und verließ das Zimmer. »Also Mutter, wirklich«, sagte Johanna gereizt. »Kaum bist du mal zu Besuch, machst du Ärger. Musste das sein?« Sie legte ihr Nähzeug ebenfalls in den Korb und folgte ihrer Tante.
Elsa hatte die Auseinandersetzung mit großem Interesse verfolgt. »Was war denn das?«, fragte sie voll lüsterner Neugierde.
Helene seufzte, als sie die Nadel in den brüchigen Stoff steckte. Sie genoss es, die Wissende zu sein, diejenige, die Neugier befriedigen durfte. Sie hielt keine Stickerei in der Hand, sondern änderte alte Kleidungsstücke. Daraus ein Kleid nach der neuesten Mode zu machen, war schier unmöglich. Man trug jetzt zweckmäßige Kleidung aus robusten und haltbaren Stoffen. Der Krieg hatte seinen Tribut gefordert, die Reparationszahlungen ließen, auch wenn sie jetzt auf Anweisung der Regierung eingestellt waren, nicht viel Raum für feines Material. Aber Helene dachte an die Kleider, die in ihren Modezeitschriften abgebildet waren, die die Frauen wenigstens träumen ließen, wenn die Realität sie ihnen schon aberkannte. Wunderbar bestickte Seidenroben in den herrlichsten Farben. Diamantcolliers und – wie mondän, wie verwerflich – tiefrot geschminkte Lippen. Dieserart würde sich Helene freilich nie herausputzen. Sie wusste schließlich, was sich gehörte.
Helene verachtete diese neue Frau – sie fand sie ungehörig. Aber gleichzeitig und ganz heimlich träumte sie davon, auch einmal so verrucht zu sein. Und vor allem: sich so etwas leisten zu können, so wie früher. Bevor ihnen der Krieg alles genommen hatte. Bevor diese schreckliche Inflation eingesetzt und das Wenige, was ihnen noch geblieben war, auch noch zerstört hatte. Justus, ihr Gatte, verdiente zwar im Vergleich zu anderen Männern nicht schlecht mit seiner Textilfabrik – und vor allem war er nicht arbeitslos wie so viele andere –, aber zu großem Wohlstand reichte es keineswegs. Im Gegenteil. Wenn er Geld nach Hause brachte, musste das Mädchen sofort einkaufen gehen, denn wenig später war die Mark schon wieder so weit entwertet, dass sie nichts mehr dafür bekamen. Und davon, so wie früher, in seiner Firma schöne Stoffe und Kleider zu produzieren, war Justus auch weit entfernt.
»Ich muss schon sagen, meine Liebe«, riss Elsa Kleinschmitt sie aus ihren Träumereien, »dass ich es sehr genieße, wieder einmal mit Ihnen beisammensitzen zu können. Es ist fast wie damals im Krieg!« Sie schnaubte leicht und wagte dann einen neuen Vorstoß: »Wenn ich auch anmerken muss, dass ich das abrupte Verschwinden Ihrer Tochter und Ihrer Schwester äußerst befremdlich und unhöflich finde.«
Helene errötete leicht, die offen bekundete Zuneigung Elsa Kleinschmitts machte sie verlegen. Zugleich genoss sie das Spiel, das sie miteinander spielten. Sie wusste, wie sehr Elsa auf eine Erklärung brannte, und Elsa wusste wiederum, dass sie, Helene, darauf brannte, ihr alles zu erzählen. Dass man sich jedoch zuvor noch umkreisen und umschmeicheln musste, gehörte zum guten Ton. Übertrieben konzentriert wandte Helene sich der Arbeit in ihren Händen zu. »Nun ja«, begann sie schließlich. »Ich muss zugeben, dass mir das Zusammensein mit Ihnen und den anderen Damen auch sehr fehlt. Das Leben in Konstanz ist doch oft recht einsam. Und die Kriegsjahre, die wir miteinander hier in Überlingen verbracht haben, haben uns einfach aneinandergeschmiedet. Finden Sie nicht?«
Elsa Kleinschmitt legte ihre Handarbeit zur Seite und musterte Helene bedauernd über den Rand ihrer Brille hinweg. »Sie sollten öfter nach Überlingen kommen«, schlug sie vor. »Wir könnten uns regelmäßig zum Nähen treffen. Jetzt, wo wir die Franzosen im Ruhrgebiet haben, wird es wohl auf längere Sicht nichts werden mit neuen Kleidern. Das Elend wird nur noch größer, glauben Sie mir.«
»Ich weiß nicht, ob ich mich noch trauen kann, hierherzukommen«, lenkte Helene das Gespräch nun endlich geschickt auf das Thema, das sie schon die ganze Zeit über hatte anschneiden wollen. Sie musste einfach darüber sprechen.
Elsa war auch sofort hellwach: »Was meinen Sie?« Ihre Augen leuchteten sensationslüstern.
»Ich sollte ja eigentlich nicht darüber sprechen«, zierte sich Helene.
Elsa beugte sich vor. »Meine Liebe«, raunte sie. »Sie wissen, dass Sie sich mir jederzeit anvertrauen können.«
Helene seufzte. »Es wird mich erleichtern. Ich kann diese Last nicht mehr alleine tragen.« Sie legte die Hand mit einer übertriebenen Geste an ihr Herz.
Elsa zitterte vor Spannung.
»Da ist diese Sache mit meiner Schwester und diesem Franzosen.« Helene presste die Worte hervor.
Elsas Nasenflügel begannen zu beben. Sophie und ein Franzose! Das war ja die Höhe!
»Sie wollen doch nicht etwa sagen …«
Helene schluckte. Jetzt, da sie es ausgesprochen hatte, hätte sie ihre Worte am liebsten zurückgenommen. Aber nun war es zu spät. »Diese Geschichte liegt lange zurück«, sagte sie rasch. »Vor dem Krieg war Sophie doch verlobt, erinnern Sie sich?«
»Natürlich«, erwiderte Elsa, »mit dem Vater von Raphael, der dann im Krieg gefallen ist.«
»Dieser Mann«, verkündete Helene und genoss es nun doch, mit der Neuigkeit herauszurücken, »ist ein Franzose. Und soweit wir wissen, ist er im Krieg nicht gefallen, sondern er lebt.«
»Nein!«, Elsa Kleinschmitt schlug sich die Hand vor den Mund und machte große Augen. »Das ist ja unglaublich!«
»Nicht wahr?«, jammerte Helene. »Sie verstehen doch sicher, dass ich über diese Sache einfach sprechen musste. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie sehr mich die Angelegenheit belastet hat.«
Elsa sah sie in einer Mischung aus Mitgefühl und Sensationslust an. Nicht auszudenken, wenn das herauskäme! Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf die der anderen. »Sie haben mein tiefstes Mitgefühl«, erklärte sie. Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Ich finde es äußerst egoistisch von Ihrer Schwester, dass sie keinerlei Rücksicht genommen hat. Sie hätte sich doch denken können, was sie ihrem Umfeld damit antut.«
»Danke«, seufzte Helene. Dann sah sie Elsa ängstlich an. »Ich kann mich doch auf Ihre Diskretion verlassen?«
»Aber meine Liebe!«, versicherte Elsa empört. »Natürlich! Sie kennen mich doch!«
Deswegen frage ich mich ja, ob es ein Fehler war, mich Ihnen anzuvertrauen, dachte Helene. Ihre Befürchtungen waren nicht ganz unberechtigt. Sie sollte noch bitter bereuen, dass sie Sophies Geheimnis ausgeplaudert hatte.
8. Kapitel
Überlingen,