Kornblumenjahre. Eva-Maria Bast. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva-Maria Bast
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839246641
Скачать книгу
Zimmer auf und ab, während sie sich mit der Hand unermüdlich über ihren dicken Bauch strich.

      »Wenn du nur endlich geboren werden würdest«, flüsterte sie dem Kind in ihrem Leib zu. »Vielleicht wäre dann diese schreckliche Unruhe weg.« Aber sie wusste: Es lag nicht nur an ihrer Schwangerschaft, dass sie so unzufrieden war. Ich bin noch so jung, dachte sie manchmal wütend, und dennoch scheint mein Leben schon vorbei zu sein. Ich sitze als Frau Pastor hier in dieser Stadt, in der sich nie etwas ändert. Und Sebastian hat über seiner Arbeit als Pfarrer völlig vergessen, dass es mich gibt.

      Beinahe freute sie sich, dass die Franzosen im Ruhrgebiet einmarschiert waren, auch wenn sie diesen Gedanken natürlich nie zugegeben hätte. Aber es bot zumindest etwas Abwechslung in der Eintönigkeit ihres Lebens.

      Ein nagendes Hungergefühl riss sie aus ihren Gedanken. Sie presste die Hand auf den Bauch und dachte an das Kind. Ob es ihren Hunger spürte? Ob es darunter litt? Immer dieser Hunger! Sie war es so leid!

      Wenn nur Amalia, ihre Großmutter, noch leben würde! Die hätte schon gewusst, was zu tun wäre. Amalia hatte immer einen Rat gehabt. Sie hätte notfalls die Gärten des Alten Schulhauses umgegraben und Gemüse angebaut. Sie hätte Hühner angeschafft, auch wenn diese noch so schwer zu bekommen waren, und sie hätte dafür gesorgt, dass niemand hungern musste.

      Mit einem Mal schämte sich Johanna. Da klagte sie über Hunger und Langeweile und trauerte ihrer Großmutter nach, statt die Dinge selbst in die Hand zu nehmen! Sie hatte doch genau die gleichen Möglichkeiten wie Amalia! Und noch mehr, denn sie war viel jünger als ihre Großmutter es in den Kriegsjahren gewesen war.

      Sie lächelte zufrieden und plötzlich voller Tatendrang. »Sobald du geboren bist«, flüsterte sie ihrem Kind zu, »werde ich mich an die Arbeit machen.«

      9. Kapitel

      Petrograd, Russland, 21. Januar 1923

      Irina hatte den Bürgerkrieg überlebt. Äußerlich zumindest. Innerlich war sie beinah daran zerbrochen und heimatloser und haltloser als je zuvor. Sie hatte die Kriegsjahre auf dem Land verbracht, bei ihren Eltern, die Bauern waren. Und ihr Glaube an den von ihr einst so bewunderten Lenin war zutiefst erschüttert worden. Der Grund für den Umzug zu ihren Eltern waren die Hyperinflation und der damit einhergehende Hunger in der Großstadt gewesen – den Lenin zu verantworten hatte. Sein Plan war es gewesen, Geld als Zahlungsmittel quasi abzuschaffen – was jedoch nicht einfach per Dekret durchgesetzt werden konnte. Also ließ die Regierung Geld drucken, was bis zum Jahr 1922 zu einer Hyperinflation führte. Unternehmer wurden enteignet, ihr Vermögen verstaatlicht.

      Es hatte lang gedauert, bis Irina begann, Lenins Methoden anzuzweifeln. Als glühende Bewunderin hinterfragte sie erst spät, ließ die Seiten, die ihr nicht gefielen, außer Acht, erhob das Positive zur Heldentat. Die Bildungspolitik zum Beispiel: Verpflichtete Lenin nicht Analphabeten, den Unterricht zu besuchen? Richtete er nicht Bibliotheken ein, um dem breiten Volk den Zugang zu Büchern zu ermöglichen? War es durch ihn nicht auch der ärmeren Bevölkerung möglich, Hochschulbildung zu erfahren? All das hob Irina hervor und wollte nicht sehen, dass Lenin den Roten Terror im Bürgerkrieg förderte und Konzentrationslager einrichten ließ. Sie wiederholte seine Worte, der Rote Terror sei nur eine Antwort auf den Weißen Terror der Gegner und der Terror sei ihnen durch die Interventionen der kapitalistischen Staaten aufgezwungen worden.

      Doch irgendwann hatte Irina so sehr hungern müssen, dass sie zu ihren Eltern aufs Land floh. Und da lernte sie Lenin von einer ganz anderen Seite kennen. Plötzlich schämte sie sich vor ihren Eltern, die ihr Leben lang hart gearbeitet hatten, dafür, eine Bolschewikin zu sein. Denn die Bolschewiki verlangten von den Bauern, ihre Ernte billig an den Staat abzugeben. Irina wurde Zeugin der Wut ihrer Eltern, wurde Zeugin, als Lenins Truppen gegen den Widerstand der Bauern mit Waffengewalt vorgingen und zahlreiche Menschen starben. Sie wurde Zeugin der unendlichen Trauer in dem Dorf, in dem ihre Eltern lebten. Und sie dachte verwundert, dass das ja genau die gleiche Wut war wie die, die sich damals gegen den Zaren gerichtet hatte. Sie hatte gedacht, die Bolschewiki kämpften für Gerechtigkeit. Für Frieden, Land und Brot. Wie hatte sie sich doch getäuscht! Abend für Abend hörte sie sich die Wut ihres Vaters an, erlebte, wie er seine Anbauflächen verkleinerte, damit sie ihm weniger wegnehmen konnten. Doch die Regierung richtete Parteikomitees ein, die die Bauern zur Aussaat zwangen. Die Bauern tobten, revoltierten – und töteten ihre Peiniger. Nach dem Ende des Bürgerkriegs 1920 brach die Regierung den Widerstand: Sie erschoss die Konterrevolutionäre, rund 50.000 Bauern landeten in den Konzentrationslagern von Tambow, und die Rote Armee setzte Gasbomben ein, um die Aufständischen, die sich in den Sümpfen versteckt hielten, auszuräuchern. Irina hatte mit ihrer Mutter in diesen Sümpfen gesessen, ihren Vater hatte man schon vor langer Zeit ins Konzentrationslager verschleppt. Als die Mutter über Umwege die Nachricht erreichte, der Vater sei zu Tode gefoltert worden, starb sie wenige Monate später vor Kummer. Irina hielt ihre Hand, als sie den letzten Atemzug tat – und sie fühlte sich vollkommen leer, als sie ihrer Mutter sanft über das Gesicht strich und ihr für immer die Augen schloss. Ihre Eltern gehörten zu den unzähligen Opfern des Bürgerkrieges, die nicht erfasst wurden. Erfasst waren nur die rund 770.000 gefallenen Soldaten.

      Es dauerte ein Jahr, bis Irina weinen konnte. Wie erstarrt ging sie nach Petrograd zurück, erzählte der Oberschwester in dem Krankenhaus, in dem sie vor ihrer Flucht aufs Land gearbeitet hatte, emotionslos, was geschehen war, ließ sich in ihre mitfühlende Umarmung ziehen und verharrte dort für Minuten. Danach nahm sie ihre Arbeit wieder auf.

      Über zwei Jahre war das nun her, und langsam, ganz langsam regte sich in Irina wieder so etwas wie Leben. Immer öfter dachte sie an ihre deutschen Freunde. Johanna und Luise, denen sie damals im Krieg bei der Flucht aus Russland geholfen hatte. Und Karl, ebenfalls ein deutscher Flüchtling. Karl hatte sie wirklich geliebt. Sie hatte ihn verlassen, weil sie glaubte, in Russland gebraucht zu werden, ihrem Land, Lenin, etwas schuldig zu sein. Wie dumm war sie doch gewesen!

      10. Kapitel

      Überlingen, Bodensee, 23. Januar 1923

      Sophie hatte Angst. Sie war mit Raphael alleine im Haus. Ihr Vater, der Schuldirektor, hielt sich noch in der Schule auf, Helene war wieder nach Konstanz gefahren, und Johanna und Sebastian hatten sie begleitet. Johanna wollte mit ihrer Mutter die Säuglingsausstattung ansehen, die sie nach der Geburt ihres Sohnes Robert im elterlichen Haus eingelagert hatte. Sophie nahm mit ihrem Sohn ein karges Abendmahl ein und schickte ihn dann ins Bett. Die ganze Zeit über wurde sie das Gefühl eines drohenden Unheils nicht los.

      Bewegte sich dort im Garten nicht etwas? Waren da nicht Stimmen zu hören?

      Sie ging unruhig im Haus auf und ab und knipste alle Lichter an, umklammerte das Notizbüchlein – in dem verzweifelten Versuch, die Angst zu vertreiben. Dann spähte sie vorsichtig durch die kleine Scheibe in der Haustür in den Garten hinaus. Unzählige Schatten schlichen dort herum, dessen war sie sich jetzt ganz sicher, und sie spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Ich stelle mich schon an wie Helene!, schalt sie sich. Was ist nur mit mir los?

      Sie zwang sich, zurück ins Wohnzimmer zu gehen, und setzte sich aufs Sofa.

      Als sie ein Geräusch an der Tür hörte, schreckte sie hoch. Aber es war nur ihr Sohn, der dort stand.

      »Raphael, was ist los?« Sie hoffte, dass er ihre Aufregung nicht bemerken, den hysterischen Klang ihrer Stimme nicht wahrnehmen würde. »Warum bist du nicht im Bett?«

      »Ich konnte nicht schlafen, Mutter«, flüsterte Raphael schüchtern und schlang seine kleinen Hände fest ineinander, als wolle er sich selbst Halt geben. »Ich habe so ein komisches Gefühl … ich … ich fürchte mich.«

      Sophie holte tief Luft. Ihr Sohn spürte es also auch. Oder waren es lediglich ihre eigene Angst und Unruhe, die sich auf den Jungen übertrugen?

      Sie klopfte neben sich aufs Sofa. »Du musst dich nicht fürchten, mein Schatz«, sagte sie fest. »Komm her, setz dich zu mir.«

      Raphael, erleichtert, dass sie ihn nicht mit scharfen Worten wieder ins Bett geschickt hatte, ging durchs Wohnzimmer und nahm neben seiner Mutter Platz.

      Sophie