»Wie denn dann?« Sophie war tief verletzt wegen des Anschlags, und in dieser Verletztheit schlug und trat sie um sich und tat mit Absicht so, als verstehe sie Johanna nicht. Als wolle sie eine Sperre zwischen sich und ihr errichten und sich damit noch mehr isolieren.
»Du kannst doch nicht in ein Gebiet gehen, in dem der Franzosenhass kocht wie nirgendwo anders! Du bringst euch in Gefahr. Außerdem hat Luise doch geschrieben, was sie mit Siegfried gemacht haben. Auf ihn eingetreten und ihn ins Gefängnis geworfen!«
»Und weil ein paar Menschen meinen Bruder treten, sind nun alle Franzosen schlecht. Auch Pierre.«
Sophie brach in Tränen aus.
»Ach, Sophie«, Johanna zog sie in ihre Arme. »Natürlich nicht. Du weißt, dass ich nicht so denke. Aber ich habe Angst um dich. Wenn man dir schon in Überlingen einen Stein an den Kopf wirft, wie soll es dann erst im besetzten Gebiet werden, wenn die Menschen dort erfahren, dass du einmal mit einem Franzosen zusammen warst. Und dass Raphaels Vater Franzose ist.«
»Dort lebt ja keiner, der mich verrät«, zischte Sophie und befreite sich aus Johannas Umarmung. »Ich bin sicher, dass es deine Mutter war. Sie kann mir seither nicht mehr in die Augen schauen. Und es ist schon komisch: Einen Tag, nachdem sie, bis obenhin angefüllt mit Franzosenhass, hier ankommt und lange mit der Tratschtante Elsa Kleinschmitt unterwegs ist, fliegt mir ein Stein an den Kopf!«
Johanna schwieg. Sie glaubte auch, dass es ihre Mutter gewesen war, die den Verrat an Sophie begangen hatte.
»Wie auch immer«, brach Sophie schließlich das Schweigen. »Du wirst mir doch sicher zustimmen, dass es hier im Moment fast gefährlicher ist als in Essen, wo mich keiner kennt. Und wenn Helene mich wirklich verraten hat, dann macht es keinen Sinn, zu ihr nach Konstanz zu ziehen. Denn dann wird sie mich auch dort verraten.«
»Da hast du nicht unrecht«, murmelte Johanna. »Aber ins Ruhrgebiet gehen, ich weiß nicht … Ich habe ein ungutes Gefühl. Es ist das gleiche Gefühl der Bedrohung, das ich hatte, kurz bevor Luise und ich nach Russland entführt wurden.«
»Ach was«, lachte Sophie. »Uns wird schon nichts passieren.«
Doch sie sollte sich irren.
26. Kapitel
Essen, Ruhrgebiet, 9. März 1923
Sophie kämpfte sich mit Raphael durch die dichte Menschenmenge im Bahnhof. Sie hielt ihren Sohn fest an der Hand, um ihn nicht zu verlieren. Mit der Rechten trug sie den schweren Koffer, in dem sich die notwendigsten Dinge befanden. Auch Raphael hatte einen Koffer bei sich. Vor einer halben Stunde waren sie am Bahnhof angekommen, und seitdem hatte Sophie das Gefühl, die Stadt würde sie verschlingen. Zum ersten Mal fragte sie sich bang, ob Johanna vielleicht doch recht gehabt hatte mit ihrer Warnung. Ob sie auf die Freundin hätte hören sollen. Andererseits war bisher ja alles gut gegangen. Johanna hatte ihr auch von der Zugfahrt abgeraten, gerade im Zugverkehr, hatte sie zu bedenken gegeben, kontrollierten die Franzosen viel. Sie beschlagnahmten Lokomotiven und durchforsteten die Waggons nach Kohle, denn sie hatten den Deutschen verboten, Kohlen ins unbesetzte Deutschland zu liefern, und wollten nun dafür sorgen, dass ihr Verbot auch eingehalten wurde. Und genau deshalb, hatte Sophie argumentiert, durchsuchten sie doch wohl Züge, die das Ruhrgebiet verließen, aber sicherlich kaum welche, die hineinfuhren. Außerdem fahndeten sie nach Eisenbahnern, die ihnen den Gehorsam verweigerten – erwischten sie einen, wurde er eingesperrt und vielleicht sogar erschossen. »Und ich sehe ja nun wirklich nicht aus wie ein Eisenbahner.« Mit diesem Satz hatte Sophie der besorgten Johanna sogar ein Lächeln abgerungen.
Sophie umklammerte Raphaels Hand fester, als der Menschenauflauf sich verdichtete. Sie wurde unruhig.
Was ist denn hier los?, fragte sie sich. Ich muss sehen, dass wir schnell hier wegkommen, womöglich ist das eine Demonstration; um das zu erleben, ist Raphael wirklich noch zu klein.
Plötzlich fingen die Menschen an, wild durcheinanderzurufen. Sie hoben die Fäuste und sangen: »Deutschland, Deutschland über alles …«
Sophies Herz raste. Sie sah sich gehetzt um und versuchte, den Grund für die plötzliche Aggression festzustellen. Auf den ersten Blick konnte sie nichts entdecken, dann aber sah sie einen Zug in den Bahnhof einfahren, aus dem wenig später zufrieden aussehende, aber rußgeschwärzte französische Offiziere quollen. Es war ihnen also wieder einmal gelungen, einen Kohletransport aufzuhalten. Die Menschen im Bahnhof protestierten dagegen und vor allem gegen die Verhaftung des Eisenbahnführers und der Mannschaft.
Plötzlich ertönten Schüsse, Menschen brüllten und kreischten, Panik brach aus. Sophie schrie, als sie von hinten angerempelt wurde und zu Boden stürzte. Dabei verlor sie Raphaels Hand und wurde von ihm getrennt, im Nu war er in der tosenden Menschenmenge verschwunden.
»Nein!«, brüllte sie und versuchte, sich aufzurichten. Doch ihre Hektik war zu groß und der Sturm der wild durcheinanderrennenden Menschen zu stark. Wieder und wieder stürzte sie zu Boden, Schuhe traten auf ihre Hände. Tränen liefen über ihre Wangen, sie brüllte ein ums andere Mal verzweifelt: »Raphael! Wo bist du?«
Neue Gewehrsalven krachten, die Menschen versuchten sich zu retten. Sophie begann zu schreien und hörte nicht mehr auf.
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