Das hohe Gericht hatte sich erhoben und verließ die Gerichtslaube.
Einige aus der Menge begannen ebenfalls zu gehen, während andere noch blieben. Man stand in Grüppchen beisammen und unterhielt sich über den Verlauf der Verhandlung, wobei die vermeintlich interessantesten Szenen und Aussagen wieder und wieder hervorgezerrt wurden, um sie genüsslich auf den tratschenden Zungen zergehen zu lassen.
Was für Jobst Heiss und Peter Seimer eine todernste Angelegenheit hätte werden können, empfanden die meisten der Zuschauer im Nachhinein lediglich als unterhaltsames Spektakel, an dem man sich ergötzt und das einem angenehme Schauer über den Rücken gejagt hatte.
Doch dies sahen nicht alle so.
Einige der Angehörigen der verschworenen Gemeinschaft der Armen Christi waren ebenfalls unter der Menge gewesen. Für sie, die wie Peter Seimer ihre religiösen Überzeugungen geheim halten mussten, war der Ablauf der Verhandlung vor dem Stadtrichter alles andere als ein vergnügliches Possenstück gewesen. Vielmehr eine erneute Bestätigung dafür, dass sie in einer Welt lebten, die vom römischen Antichristen und damit vom Teufel beherrscht wurde. Einer Welt, in der sie, die wahren Diener des Herrn, sich vorsichtig wie Tauben und listig wie Schlangen erweisen mussten.
Natürlich waren sie heilfroh, dass sich Peter Seimer nicht gezwungen sah, öffentlich zu bekennen, wer er war. Insofern musste man dem Herrn für seine Güte danken. Doch der Prozess hatte ihnen einmal mehr vor Augen geführt, in welcher Gefahr sie schwebten. Vor allem jetzt, da, wie man gerüchteweise hörte, wieder einmal die Heilige Inquisition im Begriff stand, ihre Klauen auszufahren.
Und so schwieg man lieber und ging still nach Hause, als sich an der öffentlichen Diskussion auf dem Marktplatz zu beteiligen.
Auch Heiner Mohr, der mit seiner Familie in Ternberg lebte und als guter Freund Peter Seimers galt, war gerade dabei aufzubrechen, als er von seinem Nachbarn Johann Rieser angesprochen wurde.
»Gott zum Gruß, Heiner. Willst du etwa schon gehen? Jetzt, wo’s so richtig gemütlich wird? Ich treff’ mich mit den Praitenbergers in der Goldenen Gans. Willst du nich mitkommen?«
»Nein, Johann. Danke für das Angebot. Vielleicht ein andermal. Ich muss heim; die Familie wartet«, beschied Heiner Mohr seinem Nachbarn und zwang sich zu einem unverbindlichen Lächeln. Sie mochten einander nicht, auch wenn sie notwendigerweise des Öfteren miteinander sprachen. In den Augen Heiner Mohrs war Rieser ein vulgärer Grobian, der beim kleinsten Missgeschick die Selbstbeherrschung verlor, fluchte, was das Zeug hielt, und weder mit seiner Familie noch mit seinen Nachbarn in Frieden leben konnte; kurz: ein Mensch, dessen Gesellschaft man besser mied. Rieser wusste, was Mohr von ihm hielt, und konnte ihn seinerseits nicht leiden. »Scheißheiliger«, »Betmemme«, »Pfaffenliebling« waren die gängigen Begriffe, mit denen er ihn titulierte, wenn er mit anderen über ihn sprach; Bezeichnungen, in denen sich gleichermaßen Hass und Spott spiegelten. Denn so sehr Rieser Mohr seines überaus sittsamen Lebenswandels und seiner tiefen Gläubigkeit wegen verachtete und mit Spott bedachte, so sehr empfand er insgeheim Neid wegen des ausnehmend guten Leumundes, den sein Nachbar überall genoss – und maßlosen Ärger darüber, dass sich Mohr deswegen »besser vorkam wie andere«, wie Rieser behauptete
»Ach was. Spiel nich wieder den Heiligen. Deine Familie kommt auch mal ohne dich zurecht. Gönn dir einen kühlen Schluck; komm mit«, forderte er ihn nichtsdestotrotz auf.
»Lass gut sein, Johann. Bis nach Ternberg ist’s ein ordentliches Stück Weg. Ich will bald zu Hause sein. Wie gesagt: ein andermal«, entgegnete Mohr und wandte sich zum Gehen. Das letzte Mal, als er sich von Rieser zu einem Schwatz am Biertisch hatte überreden lassen, war er mit hämischen Bemerkungen und spöttischen Kommentaren geradezu überschüttet worden. Damals hatte er sich geschworen, solches in Zukunft bleiben zu lassen.
Doch Johann Rieser ließ nicht locker. »Warte, Heiner; einen Augenblick noch. Was sagst du eigentlich dazu, wie’s mit dem Heiss ausgegangen is’? Der hat doch verdammtes Schwein gehabt. Wenn der Seimer hätt schwören können, wär’s vielleicht aus mit ihm gewesen. Dem Seimer hätten Richter und Ratsherren sicher eher geglaubt. Meinst du nich auch? Und überhaupt: Peter und du, ihr seid doch dicke Freunde. Hat er dir denn nichts von der ganzen Geschichte erzählt? Ich mein’, das mit den Maskierten und der Erpressung und so.«
»Nein, hat er nicht«, gab Heiner geduldig zur Antwort. »Er hatte auch keine Gelegenheit dazu. Ich habe ihn … ich habe ihn schon länger nicht mehr gesehen.«
»Ach, hör auf, Heiner, was heißt hier, schon länger nicht mehr gesehen. Er war doch erst vorgestern bei dir; spät des Nachts. Ich hab ihn gesehen. Und andere waren auch noch da – welche, die ich noch nie gesehen habe.«
Heiner Mohr erschrak. Was der Rieser sagte, war richtig. Peter war mitsamt seiner Familie und dem Gesinde tatsächlich vorgestern Nacht bei ihm gewesen. Und nicht nur er. Einige andere aus der Gemeinde waren ebenfalls bei ihm gewesen. Und auch die beiden reisenden Meister, Bruder Rudlin und Bruder Heinrich. Sie alle hatten Peter für die vor ihm liegende Verhandlung Mut zugesprochen. Rudlin und Heinrich hatten der geheimen Versammlung aus dem Buch der Psalmen vorgelesen. Dann hatten sie zusammen gebetet und anschließend hatten die beiden Meister den Anwesenden die Beichte abgenommen.
Allerdings hatte Heiner geglaubt, dass sie alle genügend Vorsicht hatten walten lassen und von niemandem gesehen worden waren.
Doch das war offenbar ein Irrtum gewesen.
Johann Rieser hatte sie beobachtet.
Heiner Mohr lächelte gequält.
»Ja, ja«, sagte er. »Du hast schon recht. Natürlich war Peter bei mir. Aber eben schon vorgestern. Darum sagte ich, ich hätte ihn schon länger nicht mehr gesehen. Zwei entfernte Verwandte waren bei ihm abgestiegen. Sie waren auf der Durchreise. Und da hat er uns eingeladen. Du verstehst schon. Wegen der Neuigkeiten und so. Unsereiner ist ja, wenn er erfahren will, was in der Welt passiert, auf durchziehende Reisende angewiesen. Aber von seiner Begegnung mit dem Maskierten hat er nichts erzählt. Wahrscheinlich wollte er seiner Aussage vor dem Stadtrichter nicht vorgreifen. Ist ja auch verständlich. Aber jetzt lass gut sein, Johann. Ich muss weiter.«
»Mach’s gut, Heiner. Und sag dem Seimer, er soll mich das nächste Mal auch mit einladen, wenn er Besuch kriegt. An Neuigkeiten bin ich schließlich auch interessiert.«
»Ich werd’s ihm ausrichten, Johann. Also dann – bis bald.«
Während sich Mohr endgültig zum Gehen wandte, sah ihm Rieser mit verkniffener Miene nach.
»Ich krieg dich schon, du scheinheiliger Tugendbold, dich und deine Freunde, verlass dich drauf«, murmelte er leise; der Verdacht, den er bereits über Jahre hinweg hegte, hatte heute neue Nahrung bekommen. Ein Hinweis, an der richtigen Stelle angebracht, würde die nötige Klärung bringen, da war sich Johann Rieser sicher.
Ein gehässiges Lächeln spielte um seine Mundwinkel, während er zum Goldenen Krug hinüberging.
*
Die beiden Männer waren von tiefer Zufriedenheit erfüllt.
Verschmitzt lächelnd, beobachtete der jüngere von ihnen die auseinanderstrebende Menschenmenge auf dem Platz vor dem Stadtrichterhaus.
»Siehst du, Bruder Rudlin, die List hat sich gelohnt«, sagte er.
Der Ältere lächelte still vor sich hin. »Ja, für diesmal hast du recht behalten, Bruder Heinrich. – Im Übrigen: Du musst sehr überzeugend gewirkt haben. Peter hat dich wirklich nicht erkannt, als du ihm den fingierten Drohbrief überreicht hast.«
»Nun, das war schließlich auch der Sinn der Übung, nicht wahr?«, grinste der Jüngere.
Der Ältere nickte. »Beten wir zum Herrn, dass deine List auch weiterhin erfolgreich