»Klar«, lachte ihre Schwester und knuffte ihr liebevoll mit der Faust in den Bauch. »Du machst mir nichts vor, Schwesterherz.« Dann nickte sie anerkennend und zwinkerte. »Gute Wahl, Jess. Der Kerl sieht verdammt gut aus und ist dazu genau dein Kaliber.«
»Mein Kaliber? Blödsinn«, erklärte Jessica bestimmt. »Wir duzen uns, ja gut. Das war’s aber auch. Und so schnell sehen wir uns bestimmt nicht wieder.«
Mit dieser Aussage hatte Jessica tatsächlich recht. In den nächsten Tagen und Wochen kam nicht das kleinste Lebenszeichen von Florian. Anfangs hatte Jessica auch nicht damit gerechnet, doch jetzt ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie verstohlen zur Eingangstür des »Feuertempels« spähte, sobald diese sich öffnete und Gäste in die Kneipe strömten. Mindestens fünfmal täglich zog sie ihr Handy aus der Tasche, nur um kurz zu schauen, ob es einen eventuell verpassten Anruf anzeigte, und zweimal war sie bereits am Gebäude der Kemptener Kriminalpolizei vorbeigefahren, um zu überprüfen, ob der Hauptkommissar vor dem Gebäude geparkt hatte. Dabei wusste sie nur, dass er einen dunklen VW Kombi fuhr und in Kempten wohnte, also das Auto auch hier gemeldet war, mehr leider nicht. Gut, Florian Forster hatte ihr seine Karte mit der Dienstnummer gegeben und hinten drauf seine private Handynummer aufgeschrieben, doch so nötig hatte Jessica es nicht. Niemals würde sie einem Mann hinterherlaufen. Wenn der Hauptkommissar das Interesse an ihr verloren hatte, dann war es eben so. Sie jedenfalls würde sich nicht melden.
So richtig viel Beziehungserfahrung hatte Jessica sowieso nicht vorzuweisen. Ihre einzig länger dauernde Beziehung war die mit Kai gewesen, Student der Wirtschaftswissenschaften, groß, schlaksig und unsportlich. Über drei Jahre teilten sie die Wohnung und das Bett und alles schien in Ordnung zu sein, bis Kai schließlich urplötzlich eines Abends beschloss, seine Koffer zu packen und sie zu verlassen. Jessica wusste bis heute nicht, was sie damals falsch gemacht hatte. Für sie war Kai die große Liebe gewesen, der Mann, den sie heiraten und mit dem sie eine Familie gründen wollte. Sie hatten sich eigentlich immer gut verstanden, die wenige Freizeit, die sie aus beruflichen Gründen hatten, immer miteinander verbracht und sich stets aufeinander verlassen können. Und dann plötzlich zog er aus.
Kai hatte sich danach nie wieder gemeldet.
Nach diesem Desaster waren Jessicas folgende Beziehungen kaum der Rede wert gewesen. Mit ein paar wenigen Männern hatte sie es probiert, doch keiner hatte sie mehr als ein paar Wochen interessiert. Leider gehörte Jessica zu den Frauen, die sehr wählerisch waren und Fehler, eigene genau wie die anderer, nur schwer akzeptieren konnten.
Kapitel 6
Tief in Gedanken versunken schlenderte Hauptkommissar Forster über die Hamburger Reeperbahn. Am Tage war die Amüsiermeile von Hamburg unspektakulär und ein wenig schmuddelig, doch nachts erwachte sie zum Leben. Die bunten Lichter, die Kneipen, die zum Bleiben einluden, und natürlich die Stripbars, die mit nackten Frauen und purem Vergnügen warben, faszinierten den Allgäuer Beamten, der sich hier vorkam, als wäre er in Kempten ein kleiner Dorfpolizist ohne Herausforderung. Die Kommissare und Streifenpolizisten hatten hier monatlich sicher mit wesentlich mehr Verbrechen und Abgründen menschlichen Versagens zu tun, als er in seiner gesamten Polizeilaufbahn je haben würde.
Seit zwei Tagen war Hauptkommissar Forster bereits in Hamburg, hatte versucht, sich selbst ein Bild zu machen über diesen mysteriösen Mordfall an dem Polizeibeamten im Dezember letzten Jahres. Irgendwie hatte er das Gefühl, dieser Mord hätte etwas mit seinem aktuellen Fall zu tun, doch er kam nicht dahinter, welches Indiz ihn auf diese Idee brachte. Natürlich gab es da die Verbindung durch die gespeicherte Nummer im Handy des Kemptener Opfers. Florian Forster glaubte nicht an Zufälle und war sich sicher, dass mehr hinter dieser Nummer steckte, als die Beteiligten zugaben. Er vermutete irgendeine Beziehung zwischen den beiden Opfern. Da sowohl Susanne Reuter als auch Jessica Grothe glaubhaft versichert hatten, sie würden das Baumarktopfer Klaus Vollmer nicht kennen, musste die gespeicherte Telefonnummer in Verbindung zu dem Hamburger Opfer Wolfgang Reuter stehen, der als Einziger ebenfalls unter dieser Telefonnummer gemeldet gewesen war. Doch weder bei dem Polizeibeamten noch bei dem Baumarktmitarbeiter wies irgendetwas auf Korruption oder andere kriminelle Machenschaften hin. Beide Opfer hatten Familie, keine Eheprobleme, ein geregeltes Leben und schienen glücklich zu sein. Die beiden Opfer lebten schon immer beinahe 800 Kilometer voneinander entfernt und hatten nach Angaben der Freunde und Verwandten auch nie ihren Urlaub in der jeweils anderen Region verbracht, konnten sich also nicht begegnet sein. Und doch wurmte den Allgäuer Hauptkommissar etwas, das er nicht zu definieren vermochte. Auf der anderen Seite der mehrspurigen Straße sah er die hell erleuchteten Reklameschilder des Burger King und ihm gegenüber die Davidwache. Er hatte darum gebeten, sich den Tatort ansehen zu dürfen. Der leitende Kommissar Wächter war nicht begeistert gewesen, doch hatte er schließlich zugestimmt. Niemand ließ sich gern in die laufenden Ermittlungen blicken, das wusste Florian Forster nur zu gut.
Minuten später betrat er die Wache und stellte sich vor. Der diensthabende Polizist hinter dem Tresen verwies ihn freundlich an seinen Kollegen, der verärgert, ja beinahe zornig aus seinem Büro kam und Hauptkommissar Forster nur aus Höflichkeit die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte. Florian wusste, dass er hier nicht willkommen war.
»Guten Tag, Herr Hauptkommissar«, wurde er mürrisch begrüßt. »Sie wurden uns schon angekündigt. Wollen Sie gleich mitkommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stapfte der Polizeibeamte mit weit ausholenden Schritten durch den langen Gang in den hinteren Teil des Gebäudes. Scheinbar schien er diese leidige Angelegenheit so schnell wie nur möglich hinter sich bringen zu wollen.
»Was verschlägt Sie hier nach Hamburg, Herr Hauptkommissar?«, brummte der Beamte vor ihm, in dem Versuch, höfliche Konversation zu halten. »Sie hätten sich die Unterlagen zu diesem Fall schließlich auch faxen lassen können.« Letzteres klang mit voller Absicht vorwurfsvoll.
»Die Unterlagen hatte ich bereits in Kempten gesichtet, doch ich mache mir gern selbst ein Bild«, gab der Kommissar ruhig und sachlich zur Antwort.
Der Hamburger Beamte blieb vor einer Tür stehen, stieß diese mit einer Hand auf und deutete Florian an, einzutreten.
»Das ist der Umkleideraum«, erklärte er dem Hauptkommissar. »Dort hinten ist das Bad mit den Toiletten und Duschen. Dort ist der Mord passiert.« Als der Polizist dem Kommissar in den gefliesten Raum nicht folgte, drehte sich Florian Forster zur Tür um und sah, dass der Beamte wortlos und beinahe angsterfüllt an die hintere Wand starrte und nicht bereit war, einen weiteren Schritt zu gehen. Florian wusste sofort, dass dort die Leiche gelegen haben musste.
»Es ist immer schrecklich, einen Kollegen zu verlieren«, versuchte der Kommissar den jungen Beamten zu beruhigen. »Mir selbst ist das noch nie passiert, dem Himmel sei Dank«, gab er zu.
»Ich habe ihn gefunden«, flüsterte der Hamburger Beamte kaum hörbar. »Und er war mehr als ein Arbeitskollege für mich. Er war mein bester Freund.«
Den Abend verbrachte Florian mit Martin Hansen in einer kleinen, recht stilvollen Kneipe ganz in der Nähe der Polizeiwache. Er war froh, dass er den Kollegen überreden konnte, auf ein Bier mit ihm mitzukommen, einerseits, weil er so den Abend nicht einsam in seinem Hotelzimmer verbringen musste, andererseits, weil er hoffte, noch mehr Informationen über Wolfgang Reuter zu bekommen. Vielleicht half ihm dieses Treffen mit dem besten Freund des Opfers, etwas mehr Klarheit zu schaffen oder die gesuchte Verbindung ins Allgäu herzustellen. Wenn er allerdings ganz ehrlich zu sich selbst war, interessierte ihn all das nur am Rande. Viel lieber würde er mehr über Jessica erfahren. Martin Hansen musste sie schließlich mehr als gut kennen, wenn er mit ihrem Schwager befreundet gewesen war. Außerdem waren Jessica und Martin beide Polizisten und damit Kollegen gewesen.
Seit dem Treffen im »Feuertempel« vor über zwei Wochen hatte er Jessica nicht mehr gesehen. Die Handynummer, die sie ihm etwas widerwillig aufgeschrieben hatte, war falsch. Diese Nummer existierte nicht. Für Florian war das ein Zeichen gewesen, dass sie ihn nicht wiedersehen wollte. Das und die Tatsache, dass sie sich auch nicht bei ihm gemeldet hatte, denn sie hätte sowohl