»Meinst du, es war Markus?« Jessica drehte sich zu ihrem Freund um und sah ihn durchdringend an.
»Nein, nicht Markus. Sein Entsetzen war nicht gespielt, als er die Leiche gefunden hat. Aber ich habe noch ein weiteres Problem.« Er stand auf und griff nach der Pfanne, die noch auf dem Herd stand. Dann legte er sie in die Spüle und goss eine große Portion Spülmittel darauf.
»Was für ein Problem?« Jessica schloss die Klappe der Spülmaschine und schaltete das Gerät an.
»Ewe sagt, er habe nicht alle Körperteile gefunden. Es fehlen zwei Finger und ein kompletter Fuß. Wir haben alles abgesucht.«
»Oh je. Vielleicht hatte der Mann schon vor seinem Tod nur noch drei Finger«, sagte Jessica. »Könnte doch sein.«
»Nein, laut Ewe nicht. Die Finger sind eindeutig post mortem abgetrennt worden, wie der Fuß. Vermutlich durch das Mahlwerk im Kessel. Wann genau, also in welchem Prozess der Bierherstellung, kann man kaum sagen. Deshalb ist es schwierig zu bestimmen, ob die Teile im Treber, im Tank oder im Kanal gelandet sind. Ewe vermutet, dass es bereits vor dem Reinigungsvorgang passiert ist, weil die Bruchstellen am Knochen von dem aggressiven Reiniger ebenso stark angegriffen sind wie die restlichen Knochen, aber sicher ist er sich nicht. Wenn es so wäre, würde der Kanal wegfallen.«
»Hat man das kontaminierte Bier inzwischen nicht auch in den Kanal entsorgt?«, fragte Jessica verwirrt. »Das muss doch vernichtet werden.«
»Natürlich muss es das. Es soll Anfang nächster Woche kontrolliert aus dem Tank durch einen Filter abgelassen werden, um die eventuellen Knochenreste aufzufangen. Diesen Filter habe ich heute organisiert. Ich hoffe, er kommt morgen oder übermorgen an.«
»Verstehe. Da haben wir ja beide richtig Glück mit unseren Fällen. Scheinbar unlösbar bringt doch am meisten Spaß, oder?«
9
Hauptkommissar Forster stieg auf der Beifahrerseite des Streifenwagens aus, hielt kurz inne und rieb sich mit zwei Fingern seiner rechten Hand über die Augen.
»Soll ich allein hineingehen, Chef?«, bot Berthold an, schloss die Fahrertür und wartete, dass Florian seine Tür zuschlug, damit er das Fahrzeug mit dem Funkschlüssel verriegeln konnte.
Als der Hauptkommissar sich nicht rührte, ging Berthold um den Wagen herum und hielt seinem Vorgesetzten den Schlüssel entgegen. »Setz dich einfach wieder rein. Ich schaff das schon allein«, sagte er und konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.
»Ich komme mit«, beschloss Florian, ließ die Tür los, an der er sich festgehalten hatte, schwankte kurz und lehnte sich rückwärts gegen den Streifenwagen. »Gib mir eine Minute, Berthold.«
Ihre Befragung der Brauereibesitzer in der Umgebung des Baschtl-Bräu hatte er sich einfacher vorgestellt. Im direkten Umfeld des Tatortes gab es vier weitere Brauereien, die nach Aussage des Brauerei-Inhabers Lenz alle einige Kunden an ihn verloren hatten. Bei den Kunden handelte es sich um Gastwirtschaften, kleine Hotels und Pensionen, die ihr Bierangebot aufgrund der günstigeren Konditionen der Baschtl-Bräu-Brauerei in den letzten Jahren umgestellt hatten. Zwei Getränkemärkte in Immenstadt und Sonthofen hatten das Bier zwar ins Sortiment aufgenommen, doch ob es die anderen Biere verdrängte oder nur ein zusätzliches Angebot für die Kundschaft darstellte, konnte ihm weder Sebastian Lenz noch einer der drei bisher befragten Braumeister sagen. Dafür war das Baschtl-Bier in dieser Gegend noch nicht lange genug auf dem Markt. Um eine Antwort darauf zu bekommen, müsste er vermutlich in besagten Supermärkten direkt nachfragen, aber das schien Florian etwas übertrieben.
Die frische Luft tat ihm gut.
Unmittelbar an der Hauptstraße, die sich durch das Dorf schlängelte, stand das graue Gebäude mit der riesigen Glasfront an der Westseite. Gleich daneben diente ein steinerner Torbogen als Einfahrt. Er war zu einer Zeit gebaut worden, als noch Kutschen das Bier abholten. Die großen Sattelschlepper und Biertransporter von heute passten nicht durch das Steintor. Für sie gab es eine weitere Einfahrt etwa 50 Meter weiter hinter dem Gebäude.
Der Besucherparkplatz der Brauerei lag auf der gegenüberliegenden Straßenseite und war leicht abschüssig. Durch ein paar alte Weiden konnte man etwas entfernt, umringt von Wiesen, den Großen Alpsee sehen.
»Wie heißt denn hier der Braumeister?«, wollte Florian wissen und versuchte, mit Berthold Schritt zu halten. Sie überquerten die Straße und gingen auf das Tor zu. »Damit ich vorbereitet bin«, fügte er hinzu und bewunderte im Vorbeigehen die großen Kupferkessel des alten Sudhauses, die man durch die Glasscheibe sehen konnte.
»Der Braumeister ist ein gewisser Herr Voßkugler, der Brauereibesitzer heißt Rosenberger«, erklärte Berthold, blieb stehen und drehte sich zu dem Hauptkommissar um. »Aber das habe ich dir im Auto schon erzählt.«
»Ja, ich erinnere mich.« Florian rieb sich wieder die Augen und fuhr sich mit beiden Händen durch sein Haar. »Herrgott, Berthold. Sag mir, wie du es schaffst, das Bier abzulehnen, wenn man es dir anbietet? Ich packe auf gar keinen Fall eine weitere Maß«, jammerte er. Verstohlen spähte er durch das Tor in den Innenhof der Brauerei, doch dort war keine Menschenseele zu sehen. Vermutlich war gerade Mittagspause.
»Es gibt Männer«, begann Berthold und versuchte, nicht allzu breit zu grinsen, »die können einfach keiner Versuchung widerstehen, sagt meine ältere Schwester Angela immer. Und jetzt weiß ich auch, was sie damit meint. Du kannst nicht Nein sagen, Chef. Jedenfalls nicht zu Bier.«
»Doch, das kann ich. Ich bin schließlich im Dienst«, beschloss Florian und klang sehr überzeugt. »Sag mir nur, wie du es machst, Berthold. Du musstest noch überhaupt nichts trinken. Und mir drängen sie das Bier immer auf, obwohl ich dankend ablehne.«
Bertholds Tipps beherzigte Florian nur wenig später im Gärkeller, der im zweiten Untergeschoss der Brauerei lag. Hier war es feucht und kalt. Kondenswasser tropfte von der Decke und überzog die großen liegenden Edelstahltanks mit einer nasskalten Schicht. Schon auf der Treppe nach unten hatte er die Hände tief in die Hosentaschen geschoben. Obwohl er unten beinahe gestolpert und hingefallen wäre, weil er mit dem Fuß an einer erhöhten Türschwelle hängengeblieben war, ließ er die Hände, wo sie waren. Er schaute sich interessiert um und vermied es, den Braumeister und den Brauereibesitzer, die sich beide mit in den Keller bemüht hatten, länger als nötig anzusehen.
»Sie müssen unser Bier probieren, Herr Hauptkommissar«, sagte Herr Rosenberger, der Brauereibesitzer. »Es ist das beste hier im Allgäu. Wir sind mehrfach ausgezeichnet worden. Unser Braumeister Voßkugler ist ein wahres Genie in seinem Fach und bereits seit über 15 Jahren bei uns«, lobte der Eigentümer der Brauerei.
Florian hörte diese und ähnliche Worte bereits zum vierten Mal am heutigen Tag. Auch vier Brauereibesichtigungen hatte er inzwischen durch.
»Bitte machen Sie uns die Freude und probieren Sie selbst. Es wird Ihnen munden, Herr Hauptkommissar.« Rosenberger griff nach einem Maßkrug.
Bevor er ihn unter den kleinen Hahn halten konnte, der das Bier ausließ, schüttelte Florian heftig den Kopf. »Recht herzlichen Dank, aber wir sind im Dienst«, sagte er und wechselte schnell das Thema. »Kennen Sie Herrn Lenz, den Besitzer des Baschtl-Bräu, auch persönlich?«
»Aber klar.« Es war Braumeister Voßkugler, der die Frage beantwortete. »Wir haben einen jährlichen Stammtisch, der rotierend in jeder Brauerei im gesamten Allgäu stattfindet. Im letzten Jahr hat unser Betrieb ihn veranstaltet. Herr Lenz besucht den Stammtisch regelmäßig seit mehreren Jahren. Der Mann ist zwar sehr von sich überzeugt und etwas überheblich, aber immer höflich und versteht sich mit jedem«, fügte Voßkugler hinzu, ohne dass Florian danach fragte. »Der Vorfall in seiner Brauerei ist tragisch, doch Sie liegen mit Ihrer Vermutung falsch, Herr Forster. Das Biergeschäft ist heute nicht mehr leicht, die Absatzmärkte sind hart umkämpft. Aber wir sind die älteste Brauerei in der Region und haben eine ausreichend