Er wanderte gemächlich und ohne Ziel Richtung Westen, er wusste nicht wohin, also überließ er alles dem Zufall. Er schlief in Heuschobern oder im freien Feld. Nach ein paar Tagen stibitzte er eine Decke von einem Karren herunter, der ihn passierte. Ab da konnte er auch im Wald übernachten, wo er vor Entdeckung am sichersten war. Manchmal erbettelte er sich etwas zu beißen, meist stahl er es sich zusammen. Er brauchte nicht viel. In der zweiten Woche seiner Wanderung nach nirgendwo lief ihm ein kleiner herrenloser Hund über den Weg. Die beiden freundeten sich schnell an, und fortan liefen sie zu zweit. Georg fühlte sich sicherer mit seinem neuen vierbeinigen Begleiter, dem er trotz seiner kleinen Erscheinung den Namen ›Fafnir‹ gab. Gerlinde hatte ihm zur guten Nacht gerne alte Geschichten erzählt, in denen auch ein Lindwurm dieses Namens vorgekommen war. Und mit einem Lindwurm als Begleiter, da würde ihm niemand etwas zuleide tun wollen!
Sie mieden Menschen, wo sie konnten, was auf den Wegen, auf denen sie jetzt unterwegs waren, recht einfach war. Es herrschte wenig Verkehr, und man sah bereits von Weitem, wenn sich jemand aus der Gegenrichtung näherte.
Eines Tages, Georg wusste nicht mehr, seit wie vielen Wochen er bereits unterwegs war, stolperte er, während er hinter Fafnir herlief. Er fiel hin und schlug sich das Knie auf. Während er weinend und blutend am Wegesrand saß und Fafnir ihn tröstend abschleckte, kam ein Karren daher, der von zwei Ochsen gezogen wurde. Überbordend beladen, an allen Seiten hingen klappernde und scheppernde Gerätschaften herunter, machte er einen solchen Lärm, dass Georg für einen Moment seine Schmerzen vergaß und den Mann anschaute, der auf dem Kutschbock saß.
»Was ist geschehen?«, fragte dieser, hielt an und stieg herunter. Ein klein gewachsener Mann stand vor ihm, nicht mehr der Jüngste. In seiner Leibesmitte wölbte sich ein kugelrunder Bauch, der ihm den Abstieg vom Karren nicht gerade erleichtert hatte. Vorne bereits glatzköpfig, hatte er sich die letzten verbliebenen Haare hinten lang wachsen lassen und zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden. Dunkle, vertrauenerweckende Augen sahen hinunter auf den kleinen weinenden Rotschopf. Der Mann, der roch, als sei er schon länger unterwegs, ohne sich zu waschen, war von Berufs wegen den Kummer anderer Menschen gewohnt. Mit einem Blick hatte er das Missgeschick des Jungen erfasst und lachte.
»Da hast du aber Glück, dass du auf einen Bader wie mich getroffen bist.«
Er nahm eine Handvoll Kräuter, wickelte sie in ein Tuch und knotete dieses um Georgs Knie. »Das wird die Blutung stoppen und den Schmerz lindern. Wohin seid ihr beiden eigentlich unterwegs, so ganz allein?«
Georg wurde misstrauisch, diese Frage mochte er nicht. Dennoch, und weil das Gesicht des Baders in ihm keinen Argwohn erregte, antwortete er.
»Ich weiß nicht, wir suchen einfach nur einen Platz, wo wir leben können, ohne dass ich ins Findelhaus komme.«
Der Bader wackelte mit dem Kopf und hielt seine Arme verschränkt, sodass sie auf seinem Kugelbauch auflagen.
»Das ist gar nicht gut, die Straßen sind viel zu gefährlich für einen kleinen Jungen wie dich. Und wenn du nicht weißt, wo du hin willst, wirst du nicht lange überleben.«
Der Kopf wackelte weiter, es schien eine Angewohnheit des Baders zu sein.
»Warum kommst du nicht mit mir?«, sagte der Bader. »Mein Name ist Michel, und ich ziehe durch die Lande und biete allen meine Dienste an, die sie brauchen können. Wenn du Lust hast, kannst du mein Gehilfe werden. Für deinen Hund haben wir auch Platz.«
»Ich heiße Georg Esposito, und das ist Fafnir.« Michel lachte, als er den furchterregenden Namen hörte, und streichelte dem Hund über den Kopf. »Wir kommen aus Reutlingen«, fuhr Georg fort und deutete mit der rechten Hand auf sich selbst und Fafnir.
»Mir ist aber gleich, wo wir hingehen, solange es nicht dorthin zurückgeht.«
»Keine Sorge, das liegt im Moment nicht auf meinem Weg. Wir gehen genau in die andere Richtung.«
Gesagt, getan. Georg kletterte auf den Karren des Baders, Fafnir wurde nach mehreren vergeblichen Versuchen hinaufzuspringen von diesem lachend hinaufgehoben. Der Schmerz war vergessen, jetzt konnte er endlich einmal im Sitzen reisen!
Michel war ein guter Reiseleiter, er hatte es nicht eilig und erzählte immerzu Geschichten. Von Dingen, die er auf seinen Reisen erlebt hatte, Geschichten, die ihm andere erzählt hatten, oder althergebrachte Sagen und Märchen. Georg war zu jung, um zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden, so lauschte er allem mit der gleichen Andacht und mit meist weit offen stehendem Mund.
Ab und zu hielten sie in einem Dorf, Michel packte seine Gerätschaften aus, plauderte mit den Bewohnern, verkaufte Medizin, kurierte Wehwehchen und führte gelegentlich sogar eine kleine Operation durch. Er wurde oft mit klingender Münze bezahlt, manchmal jedoch gab es auch ein Huhn, einen Schinken oder ein schönes Stück Käse als Lohn für seine Arbeit.
Er mied die größeren Städte.
»Da sind wir Bader nicht immer so angesehen. In den Städten gibt es Medizi, die wollen uns am liebsten immer gleich zum Stadttor hinausjagen. Und solange es hier genug zu tun gibt, brauche ich nicht in die Städte zu gehen.«
Wochenlang fuhren sie in Süddeutschland herum, ohne dass Georg eine Ahnung hatte, wo sie sich befanden. Aus Wochen wurden Monate, aus Monaten Jahre. Gelegentlich schnappten sie Neuigkeiten auf der Straße auf, wie zum Beispiel, dass 1467 der Herrscher von Burgund, Philipp ›der Gute‹ gestorben war. Sein bereits mitregierender Sohn Karl ›der Kühne‹ hatte sogleich seine Nachfolge angetreten.
Georg lernte, was Michel ihm beibringen konnte, dazu gehörte neben dem Anrühren von mehr oder weniger vertrauenerweckenden Rezepturen auch ein wenig Lesen und Schreiben sowie Zählen und Rechnen.
»Wer nicht zählen und Münzen zusammenrechnen kann, wird immer behumst«, sagte Michel regelmäßig. ›Behumst‹ war eines seiner Lieblingswörter. Georg hatte es vorher noch niemals gehört. Hier, in Michels Welt, wurde grundsätzlich jeder von jedem behumst.
»Du musst lernen, aufzupassen. Die Welt ist schlecht und will meist nur dein Geld, so du welches hast. Und wenn du welches hast, achte genau darauf, wie viel du ausgibst und an wen.«
Für Georg waren diese Lektionen wertvoller als die, die mit Michels Handwerk zu tun hatten. Sie verstanden sich gut, Michel schimpfte zwar bisweilen, war aber nicht nachtragend, wenn Georg einen Fehler gemacht hatte. Dieser beherrschte das Bader-Handwerk bald perfekt, zumindest vom Standpunkt des Gehilfen aus.
Es lief aber nicht immer gut. Manchmal war ein Patient nach einer Operation verstorben, oder eine Medizin, die Michel beim letzten Besuch verkauft hatte, hatte nicht die erhoffte und versprochene Wirkung gezeigt. Dann gestaltete sich ein erneuter Besuch im Dorf schwierig. Beschimpfungen und Drohungen wurden gerufen, und bevor die Dorfbewohner handgreiflich werden konnten, ergriffen sie die Flucht. In solchen Fällen murmelte Michel noch stundenlang Verwünschungen vor sich hin und verfluchte sein schlechtes Gedächtnis.
»Ich sollte mir besser merken können, wo ich welche Tinktur verkauft habe und wem ich wo das Bein aufgeschnitten habe. Das würde mich und uns davor bewahren, in einen solchen Schlamassel erst hineinzugeraten.«
Tätliche Angriffe blieben aber aus, und so erfreuten sich alle drei bester Gesundheit, als sie im Frühling des Jahres 1468, vier Jahre, nachdem Michel Georg und Fafnir von der Straße aufgelesen hatte, nach einem Aufstieg durch einen dichten Nadelwald unversehens auf einer Anhöhe standen und Zeugen eines wahrhaft fantastischen Sonnenunterganges wurden. Die letzten zwei Tage hatte es heftig geregnet, und jetzt hatte die untergehende Sonne im Westen einen blutroten Saum über den wolkenlosen Horizont gelegt. Davor lag ein weites Tal mit steilen Hängen und einem großen Fluss mittendrin. Es war ein großartiger Anblick, den Georg nie wieder vergessen sollte.
»Das ist der Rhein, der größte Fluss in unserem ganzen Land!« erzählte Michel stolz, als wäre er der Eigentümer. »Ich war schon seit ein paar Jahren nicht mehr hier.«
Georg