Gerlinde nahm das Bündel vom Boden auf und schaute hinein. Ein kleines Jungengesicht, verheult und verrotzt, mit graugrünen Augen unter einem rötlich-braunen Schopf, sah ihr entgegen. Das Kind war kein Neugeborenes mehr, aber älter als drei Monate war es auch nicht.
»Na, dann werde ich dich mal mitnehmen, kleiner Mann«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu dem Bündel. »Du bist sicher hungrig und durstig.«
Die Namensgebung war leicht, nach dem Tag des Fundes, an dem Papst Georg VII. seinen Namenstag feierte, wurde der Kleine ›Georg‹ genannt und auch gleich getauft.
Gerlinde hatte vor Kurzem von einer anderen Begine, die, da wohlhabend, in jüngeren Jahren viel gereist war und bei einem ihrer letzten Besuche in Reutlingen bei ihnen übernachtet hatte, gehört, dass Findelkinder in südlichen Ländern meist den Nachnamen ›Esposito‹ – ›Ausgesetzt‹ – erhielten, also schlug sie dies auch hier vor. Als Geburtstag für Georg Esposito wurde denn auch der 23. April 1458 ins Hausbuch der Beginen eingetragen.
Nachforschungen nach der Mutter wurden in diesen Findelkindfällen selten angestellt; wenn niemand zufällig etwas gesehen hatte, beließ man es in der Regel dabei, dass die Mutter ihr Kind nicht haben wollte. Die Beginen waren froh, wenn die Mutter es nicht tötete oder im Wald aussetzte.
Die Art des Zusammenlebens der Beginen, eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft, war ideal für die Aufzucht von Waisen- und Findelkindern. In Gerlindes Haus lebten derzeit acht Frauen, von denen die älteste mit Namen Hildegard die ›Mutter‹ oder ›Meisterin‹ war. Angeredet wurde sie aber mit ihrem gewöhnlichen Namen. Hildegard teilte ein, dass Gerlinde verantwortlich für Georg war und alle anderen nach Kräften mithelfen sollten. Es gab noch ein zweites Kind im Haus, ein Waisenkind mit Namen Peter, das aber bald weggehen musste, weil es mit zehn Jahren arbeitsfähig war und auf sich selber achtgeben konnte.
Die anderen Frauen kümmerten sich hauptsächlich um Alte und Kranke, machten Hausbesuche und besorgten die Gartenarbeit. Eine von ihnen klöppelte Spitzen für feine Gewänder, was ihnen etwas Geld einbrachte. Ansonsten waren sie auf Förderung durch adelige Frauen angewiesen, von denen es aber zum Glück mehr gab, als die meisten annahmen.
Seitdem die Bewegung der Beginen stark zugenommen und sich von Flandern aus bis nach Süddeutschland verbreitet hatte, wurde sie von der Kirche argwöhnisch beäugt. Ihre Weigerung, sich als Orden zu betrachten und somit von der Kirche kontrollieren zu lassen, war vielen Klerikern ein Dorn im Auge. Häufig waren es die gleichen Kleriker, deren Sittenlosigkeit und Habsucht von den Beginen angeprangert wurden. Und nachdem die Frauen begonnen hatten, Schriften der Kirche aus dem Lateinischen in die Sprache des Volkes zu übersetzen, war das Fass kurz vor dem Überlaufen. Es war nur noch eine Frage der Zeit – sollte es so weitergehen, würde sich die Heilige Inquisition der Beginen annehmen.
All dies war Gerlinde völlig gleichgültig, als sie sich in den ersten Wochen um den kleinen Georg kümmerte. Der hatte es wahrhaft gut getroffen, er wurde regelmäßig gefüttert – dank einer Amme, die Gerlinde gleich aufgetrieben hatte, wurde regelmäßig gewaschen und gewickelt. Von seiner Ziehmutter wurde er mit Zärtlichkeiten und Streicheleinheiten versorgt, die ein Findelkind ansonsten niemals hätte erwarten können. Gerlinde war nur mäßig hübsch, aber von ausgeglichenem, sonnigem Charakter, dazu dank eines, wenn auch geringen, Erbes nicht völlig unvermögend, was ihr die Aufnahme ins Beginenhaus erleichtert hatte. So hatte sie für ihr Findelkind immer wieder überraschende kleine Geschenke oder Naschereien bereit, auch ohne Anlass. Aber nicht nur Gerlinde, alle Frauen des Hauses hatten den kleinen Mann sehr bald ins Herz geschlossen.
Nach zwei Jahren machte er bereits Haus und Garten unsicher, die nächsten Jahre tobte er auf der Straße mit den anderen Kindern herum, er war arm wie die meisten Beginen, aber rundherum glücklich. Gerlinde lehrte ihn Sprechen, besonderen Wert legte sie auf seinen Namen, und alle lachten, wenn das Kind, laut ›Georggeorg Espositototo‹ rufend durch die Gegend tollte. Sie wurde auch nicht müde, ihm immer wieder zu bestätigen, welches Glück er gehabt habe und welches Schicksal ihm im Findelhaus oder anderswo geblüht hätte. Die Sommersprossen, die sich auf seinem Babygesicht beinah verschämt versteckt hatten und kaum sichtbar gewesen waren, waren mittlerweile voll erblüht. Nase und Backen waren voller Punkte, die besonders gut zu seinem Lachen passten. Wenn jemand Freude in die Hollensammlung brachte, dann war es Georg. Bei seinem Haarschopf hatte ein dunkles Rot den Braunton der ersten Monate vollständig verdrängt, ebenso wie Grün, nachdem er kein Baby mehr war, eindeutig seine Augenfarbe war. Diese Kennzeichen waren so augenfällig, dass alle Frauen im Beginenhaus sicher waren, dass er der Sohn, wahrscheinlich sogar der Bastard eines der häufig durchreisenden Händler, Spielmänner oder Boten war, die Reutlingen als Durchgangsstation benutzten.
»Niemand hier in Reutlingen hat rote Haare, Sommersprossen und grüne Augen«, war denn auch die einhellige Meinung der anderen Kinder, mit denen Georg manchmal spielte, aber ebenso oft wegen ebendieses Spottes aneinandergeriet. Ihm selbst, ständig verdreckt von seinen diversen Abenteuern, mit Schürfwunden an Armen und Beinen, wenn er vom Baum gefallen war oder mit einem anderen Jungen gerauft hatte, war sein Status als Findelkind völlig gleichgültig. Wenn er nicht mit Absicht darauf gestoßen wurde …
Kurz nach seinem sechsten Geburtstag, oder vielmehr dem Tag, an dem er gefunden worden war, ereignete sich die zweite Katastrophe seines Lebens. Georg spielte wie üblich auf der Straße, als eine Kutsche vorfuhr, der ein groß gewachsener Mann in einer schwarzen Soutane entstieg. Georg kannte natürlich nicht den Unterschied der verschiedenen Gewänder des Klerus, er ahnte jedoch, dass dies ein Mann hohen Ranges war. Mit grimmigem Gesicht wartete dieser, bis der ihm zu Fuß folgende Trupp Stadtsoldaten bei ihm angelangt war. Dann klopften sie alle laut und vernehmlich an die Tür des Beginenhauses und verlangten Zutritt. Die Tür wurde geöffnet und gleich nach Eintritt der Besucher wieder geschlossen. Georg kämpfte mit seiner Neugierde, hinüberzugehen, schließlich aber siegte die Angst. Er hockte sich in eine Häuserecke, von der aus er gute Sicht zu seinem Haus hatte. Geschrei kam aus dem Haus, gefolgt von Gepolter und Lärm. Derbe männliche Flüche, als es sich so anhörte, als fiele jemand eine Treppe herunter. Dann herrschte Ruhe.
Etwa zehn Minuten dauerte der Spuk.
Schließlich öffnete sich wieder die Vordertür, die Soldaten und der Priester traten heraus und führten alle Frauen des Hauses mit sich. Einige weinten, Gerlinde war darunter, das Gesicht unter einer Haube verborgen. Hildegard hielt ihren Kopf hoch, den verbissenen, tränenlosen Blick voller Hass auf den Priester gerichtet. Dieser bestieg seine Kutsche und gab das Kommando zur Abfahrt. Der Hauptmann der Soldaten zündete eine Kerze an, befestigte etwas an der Tür, verschloss diese, blies die Kerze wieder aus und marschierte mit seinen Soldaten davon, in ihrer Mitte führten sie die Frauen mit. Als alle weg waren, ging Georg vorsichtig zur Tür und schaute sich das Siegel an, welches der Hauptmann mit Wachs dort hingeklebt hatte. Hätte er lesen können, hätte er Folgendes gelesen:
›Auf Anordnung des Magistrats der Stadt Reutlingen und auf Wunsch der Heiligen Mutter Kirche und ihrer Heiligen Inquisition wurde beschlossen, die Bewohner dieses Hauses einer Befragung zu unterziehen, um antichristliche Umtriebe zu untersuchen. Bis zur Rückkehr der Bewohner bleibt dieses Haus verschlossen und darf ohne Anordnung nicht betreten werden.‹
Georg wartete den Rest des Tages und die ganze folgende Nacht vor dem Haus auf die Rückkehr der Beginen. Am nächsten Morgen hatte er sich unter Tränen damit abgefunden, dass er, obwohl erst sechs Jahre alt, bereits zum zweiten Male zum Waisenkind geworden war.
Ziellos lief er durch die Gassen von Reutlingen. Er hatte keine Ahnung, wohin er gehen sollte, und fühlte sich von Gott und der Welt verlassen. So klein er war, er wusste instinktiv, dass er keinen Büttel oder eine andere ›offizielle‹ Person ansprechen sollte. Zu heftig war die Abneigung, die er bei Gerlinde immer verspürt hatte, wenn vom Magistrat und Behörden die Rede war. Er ahnte, was ihn im Waisenhaus erwartete, wenn ihn jemand auf der Straße auflas.
Also versteckte er sich immer, sobald er einen Menschen sah, dem er das Attribut ›ehrenwert‹ verpassen würde. Er schlich zum Stadttor und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Als er einen Karren erblickte, neben dem ein alter Mann herging,