Hannah nickte schwach. »Mein Handy ist heute früh ins Wasser gefallen und funktioniert noch nicht. Aber ich habe vorhin vom Krankenhaus versucht ihn zu erreichen. Sein Handy ist aus.« Sie sah verzweifelt in die Runde. »Ich muss ihn finden. Er ist alles was ich noch habe.«
Sechs tröstende Arme umfingen sie. »Das werden wir. Versprochen.«
Die Frage war nur, ob lebend oder tot.
»Frau Bender?« Hannah drehte sich um. Eine Krankenschwester kam auf sie zu. Wie sehr sie diesen Namen hasste. »Ja.«
»Es tut mir leid wenn ich störe, aber wir haben gerade einen kleinen Jungen hereinbekommen und auf dem Rucksack den man bei ihm gefunden hat steht Max Bender. Ich dachte, er könnte vielleicht mit Ihnen verwandt sein.«
Max war nun schon mehr als drei Stunden im OP, was nie ein gutes Zeichen war.
Hannah wusste nicht, ob sie erleichtert sein oder vollkommen in Panik ausbrechen sollte. Sie hatten ihn gefunden. Er lebte, aber niemand hatte ihr sagen können, wie schlimm es um ihn stand. Und diese Ungewissheit machte sie verrückt.
Julia und Tanja saßen neben ihr. Coco lief ungeduldig den schmalen Gang auf und ab. Freundinnen, dachte Hannah. Auch wenn sie an Situationen nichts ändern konnten, so waren sie dennoch da und machten sie, zumindest meistens, etwas erträglicher. Niemand konnte die Zeit zurückdrehen oder etwas Geschehenes ungeschehen machen. Aber man konnte dafür sorgen, dass man nicht alleine war. Es hatte lange Zeit gedauert bis Hannah das begriffen hatte. So viele Jahre waren vergangen, in denen niemand anders als ihre Familie ihr Halt geben konnte. Und dann waren auch ihre Eltern plötzlich fort gewesen. Ihr Bruder war zu jung um das Ganze zu verstehen. Was ihr blieb, waren lediglich die Erinnerungen. Erinnerungen an ein gutes, wenn auch nicht perfektes Leben.
Aber mit der Zeit, verblassten auch diese und zurück blieb nichts, außer der kläglichen Hoffnung, irgendwann ihre Vergangenheit hinter sich lassen und ihr Leben wieder ordnen zu können.
Erneut spürte Hannah eine Hand auf ihrer Schulter und drehte sich danach um. »Es wird alles wieder gut.« hörte sie Julia sagen. Ihre Stimme klang immer noch zuversichtlich und aufmunternd. Es fühlte sich so leicht an daran zu glauben. Nur hatte sie vor Jahren aufgegeben, das zu tun. Glauben half niemand. Das zumindest war die bittere Erkenntnis, die sie in ihrem Leben lernen musste. Wie oft hatte sie das getan? Wie oft gebetet, dass alles gut werden würde? Sie hatte nie etwas Falsches oder Schlimmes getan. Aber was hatte es geholfen? Nichts. Denn sonst würde sie nicht hier stehen, ohne ihre Familie, ohne richtige Zukunft und der bitteren Angst auch noch ihren Bruder zu verlieren.
Das Schicksal machte was es wollte. Entweder man kam damit klar oder eben nicht.
»Frau Bender?« Als sie dieses Mal aufsah, blickte sie in das Gesicht eines jungen Arztes, dessen weißer Kittel einige Blutspritzer aufwies. Max Blut. Sie versuchte sich einzureden, dass das nichts zu sagen hatte, schließlich hatten sie ihn operiert und aufgeschnitten. Aber so richtig wollte es ihr nicht gelingen.
Der Mann zog sich seine Handschuhe aus und schob sie in eine Seitentasche seines Umhangs, dann streckte er ihr die Hand entgegen. »Mein Name ist Dr. Christian Kallert. Ich habe ihren Bruder operiert.« Er sah von ihr zu den drei anderen Frauen die sich sofort zu Hannah gesellt hatten und ihn nun ebenfalls unverwandt und besorgt anstarrten.
Zitternd ergriff Hannah seine Hand und schüttelte sie. »Was ist mit ihm? Geht es ihm gut? Kann ich zu ihm?«
Julia trat dicht neben Hannah und musterte den Mann. Er hatte dunkelblondes, festes Haar, tiefblaue Augen und ein ziemlich attraktives Gesicht, wenn gleich es auch gerade nicht sonderlich erfreut wirkte.
»Ich schlage vor, wir besprechen das am besten in meinem Büro.« sagte dieser dann und ließ Julia und die anderen nicht aus den Augen. »Schließlich handelt es sich hierbei um eine Familienangelegenheit.«
Julia zog verächtlich eine Augenbraue noch oben. »Wirklich?« fragte sie dann ungehalten. »Sie wollen uns jetzt ernsthaft damit kommen?«
Dr. Kallert warf ihr einen kaum zu deutenden Blick zu, dann drehte er sich in Hannahs Richtung. »Wenn Sie mir bitte folgen würden?« Die Aufforderung galt eindeutig nur ihr. Diese nickte. Mit einem letzten Blick zu ihren Freundinnen folgte sie dem Mann, der das Schicksal ihres Bruders in seinen Händen hielt. Okay, das klang jetzt vielleicht etwas dramatisch, aber im Augenblick kam ihr das eben so vor.
»Wir warten hier.« rief Julia ihr noch zu, nicht ohne dem Arzt nochmals einen vernichtenden Blick zu zuwerfen. »Idiot.«
»Aber ein verdammt heißer.«
»Wie bitte?«
Coco ließ sich wieder auf den harten Metallstuhl nieder. »Ich sage ja nur die Wahrheit.«
»Also bitte.« Julia verschränkte die Arme vor der Brust. »Das einzige was an dem heiß sein mag, ist der Stock den er im Arsch hat.«
»Solange er ein guter Arzt ist und er Max gesund macht, sollte euch das doch schnurzpiepegal sein.« Tanja lehnte an der Wand und starrte Julia und Coco an. »Das ist schließlich das einzige was jetzt zählt.«
»Du hast recht.« antwortete Julia. »Hier geht es einzig und allein um Max.«
»Setzen Sie sich.« Die Worte hallten durch das kleine Büro, das lediglich aus einem Schreibtisch, zwei Stühlen und einem winzigen Wandschrank bestand. Das einzige was die kahle weiße Wand überdeckte, war ein, aus verschiedenen ineinander gemischten Farben bestehendes Bild.
Der Schreibtisch war bis auf eine einzige Akte sorgfältig aufgeräumt. Drei einzelne Kugelschreiber steckten in einer kleinen kegelartigen Form, daneben ein Lineal und ein Bleistift, dessen Mine perfekt gespitzt war.
Alles an diesem Arzt wirkte peinlich genau organisiert.
»Was ist jetzt mit meinem Bruder?« fragte Hannah, während sie auf dem Stuhl gegenüber Dr. Kallert Platz nahm. Sein Blick war neutral, stellte sie fest. Was jetzt weder gut noch schlecht war.
Er setzte sich eine Brille auf, dann räusperte er sich bevor er sprach:« Ihr Bruder hat ein paar ziemlich komplizierte Brüche erlitten. Diese werden ihn einige Zeit in Anspruch nehmen, aber ich denke sie werden ansonsten gut verheilen. Zudem hat er eine Lungenquetschung erlitten und viel Blut verloren. Wir konnten ihn stabilisieren und die Operation hat er soweit ganz gut überstanden.«
Da waren sie. Endlich. Die Worte, auf die sie die letzten Stunden so sehnsüchtig gewartet hatte. Erleichterung überkam sie und sie spürte wie ihre Anspannung ein wenig nachließ. Brüche und Wunden konnten heilen. Ihr Bruder würde wieder gesund werden. Sicher, es würde einige Zeit dauern aber er war nicht in Lebensgefahr. Ihr kleiner Bruder würde leben.
Doch dann kam er, jener Satz, der so gar nicht nach Leben klang. »Leider liegt er derzeit noch im Koma.«
»Im Koma?« Tanja, Coco und Julia starrten Hannah ungläubig und geschockt an.
»Ja. Ich verstehe das nicht. Er hat Knochenbrüche und viel Blut verloren. Aber warum liegt er deswegen im Koma?« noch immer hatte Hannah das ganze Ausmaß dieses einen kleinen Wortes noch nicht wirklich realisiert. Sie stand neben ihren Freundinnen vor der Tür zu Max Zimmer auf der Intensivstation und beobachtete ihn durch die dicke Glaswand.
»Er wirkt so blass. Ich hätte bei ihm sein sollen.«
»Wenn du dort gewesen wärst, würdest du jetzt wahrscheinlich neben ihm liegen.« stellte Julia sanft fest. »Du warst nicht dort, weil du nicht dort sein solltest.«
Sie mochte Recht haben, dennoch fühlte sich Hannah als hätte sie ihn im Stich gelassen. All die Jahre hatte sie versucht ihn von allem fern zu halten was ihr altes Leben betraf, hatte ihm erklärt, dass ihre Eltern in einem fremden Land waren um armen Kindern zu helfen und sicher bald zurückkämen. Sie würde ihm die Wahrheit sagen müssen. Aber noch nicht jetzt. Nicht, wenn ihr das Schicksal