Julia saß neben Tanja auf einer Wartebank vor der Notaufnahme des Alster-Klinikums und sah ihrer Freundin hilflos hinterher, die ebenso verzweifelt den Krankenhausgang auf und ab lief. Natürlich hatte sich Coco so etwas nicht gewünscht. So etwas wünschte sich keiner. Aber es war nun einmal offenbar passiert.
Noch immer hatte sie nicht so ganz begriffen was überhaupt los war. Eine Krankenschwester hatte sie angerufen und gesagt, dass Hannah im Krankenhaus lag weil es eine Explosion gegeben haben soll.
Eine Explosion! Sowas musste man sich erst einmal vorstellen.
»Ich nehme alles zurück! Unser Leben ist perfekt so wie es ist.« Immer noch war Coco vollkommen aufgelöst. »Oder war es zumindest.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. »D-Das i-ist a-alles m-meine Schuld.«
»Unsinn. Soviel Macht hast du nun auch wieder nicht.« Tanja warf Coco einen leicht genervten Blick zu. »Wie wär´s wenn du dich jetzt einfach mal hinsetzt und mit uns wartest. Das einzige was du mit deinem ständigen Herumgelaufe bezweckst, ist, dass irgendwann deine Sohle total im Eimer ist.«
Julia sagte nichts. Das war auch nicht nötig. Egal wie verrückt sich Coco machte oder wie sehr Tanja sich darüber aufregte, es änderte nichts, aber auch gar nichts daran, was geschehen war.
Die Ärztin hatte ihr zwar bereits am Telefon versichert, dass Hannah keine lebensgefährlichen Verletzungen erlitten hatte, aber was war mit den anderen? Menschen die sich ebenfalls dort aufgehalten hatten? Männer, Frauen oder Kinder die zu diesem Zeitpunkt nichts ahnend auf dem Schulgelände oder dem naheliegenden Park gewesen waren? Um diese Zeit war dort bestimmt nicht wenig los. Das Wetter war perfekt gewesen und gleich um die Ecke der Schule, am Eingang des Parks, gab es einen wunderschönen Kinderspielplatz. Die Straßenbahnhaltestelle befand sich ebenfalls nicht weit entfernt.
Oh nein! Erschrocken riss sie die Augen auf. Wie konnten sie das nur vergessen? Max! Hannah war dort gewesen um ihn abzuholen.
»Was ist los?« Tanja sah Julia verwirrt an. »Was hast du?«
»Max.«
»Was ist mit … Oh Gott.« Sie schlug sich geschockt die Hand vor den Mund. »Nein.«
»Was ist wenn Max noch da draußen ist?« Julias Gesicht wurde bleich. »Ich meine, die Krankenschwester hat nur von Hannah gesprochen.«
»Das muss aber nichts heißen. Max kann bereits in Sicherheit gewesen sein.«
»Und was wenn nicht?« fragte Julia, auch wenn ihr darauf im Augenblick niemand eine Antwort geben konnte. Sie alle konnten nur hoffen und beten. Es ergab alles keinen Sinn. Rein rationell betrachtet wusste sie auch, dass es nicht notwendig war. Schlimme Dinge ergaben das selten. Aber sie konnte einfach nicht glauben, dass so etwas tatsächlich passiert war. In ihrem Leben gab es so etwas nicht. Das konnte einfach nicht sein. Sie war fünfundzwanzig und lebte seit sie denken konnte hier in Hamburg. Sicher gab es hin und wieder Vorfälle, bei denen sich tragische Dinge ereigneten. Vergewaltigung, Entführung bis hin zu Mordfällen. Hamburg war schließlich keine Kleinstadt und solche Sachen geschahen eben. Sie war kein naives Kleinkind mehr, doch bislang hatte sie so etwas noch nie so nah betroffen. Wie oft hatte sie in den Nachrichten davon gelesen oder gehört. Im Fernsehen Bilder von all den Anschlägen die in der letzten Zeit verübt wurden gesehen. Terrorangriffe die nahezu in jedem Land stattfanden. Natürlich war das alles furchtbar und selbstverständlich dachte sie dabei auch an die Angehörigen der Opfer. Aber irgendwann nach ein paar Tagen, wenn niemand mehr darüber berichtete, war es eben so, dass man damit nicht mehr konfrontiert wurde und dann spielte es für einen selbst keine Rolle mehr. Weil man eben niemanden gekannt hatte.
Aber jetzt war alles anders. Auf einmal befand sie sich mitten drin. Dieses Mal gehörte sie zu den Angehörigen. Oder zumindest beinahe.
Hannah war ihre beste Freundin. Und Max war fast wie ihr eigener Bruder.
Seit die beiden vor knapp drei Jahren in ihr Leben getreten waren, hatte sich so vieles verändert. Sie hatte sich verändert. Ihre Familie war nie einfach gewesen. Ihr Vater verlor schon vor einigen Jahren seinen Job und verbrachte seine Zeit nun damit, sich selbst zu bemitleiden und von Kneipe zu Kneipe zu ziehen. Ihre Mutter schlug sich als Putzfrau durch um zumindest das Notwendigste bezahlen zu können. Da dies dennoch kaum reichte war ihr damals nichts anderes übrig geblieben als sich anstelle eines Studienplatzes für einen Job zu bewerben. Also war sie Kellnerin geworden. Paul Sander, ihr und Hannahs Chef, hatte sie eingestellt ohne viel nach ihren Referenzen zu fragen. Er war eine Seele von Mensch und eigentlich so ziemlich der netteste Mann in ihrem Leben. Zu dumm nur, dass ausgerechnet er beinahe 50 und schwul war.
Trotz allem gefiel ihr die Arbeit, sie war abwechslungsreich und auch wenn sie dadurch nie reich werden würde, verdiente sie zumindest soviel, um ihre Mutter zu unterstützen und einen kläglichen Betrag auf die Seite zu sparen.
Dann hatte er Hannah eingestellt. Bislang waren Paul und sie ein Team gewesen. Das Lokal war nicht besonders groß und sie hatten es einige Jahre ganz gut zu zweit hinbekommen. Wenn es einmal doch zu stressig wurde oder sie frei hatte, dann war einfach Jessy, die Putzfrau, eingesprungen. Es hatte super funktioniert. Zumindest für Julia. Sie war nie sonderlich gut mit Mädchen oder Frauen in ihrem Alter ausgekommen. Schon in der Schule wurde sie oft ausgegrenzt. Ihre familiären Verhältnisse waren für die meisten der Anlass dazu, sie zu hänseln und ihr das Leben zur Hölle zu machen. Daher hatte sie früh gelernt, nur mit sich selbst klar zu kommen.
Julia hatte jedoch schnell erkannt, dass Hannah anders war. Sie war freundlich und hilfsbereit aber fast noch zurückhaltender und skeptischer gegenüber Fremden als sie, was irgendwie seltsam war.
Mit der Zeit waren sie Freundinnen geworden. Julia erfuhr, dass Hannahs Eltern aufgrund eines Autounfalls nicht mehr lebten und sie für ihren Bruder alleine sorgen musste. Durch Hannah hatte sie gelernt, ihr Leben endlich in die Hand zu nehmen und für das zu kämpfen was sie wirklich wollte. Hannah war diejenige gewesen, die sie ermutigt hatte, ihren Traum von der Kosmetikschule nicht einfach aufzugeben. Das Geld würde sie schon irgendwie zusammenbekommen, sie musste nur daran glauben. Ihre Freundin hatte sie gelehrt, stark zu sein und niemals aufzugeben.
Aber wie viel Kraft hatte Hannah? Wie oft konnte sie dem Schicksal entgegentreten ohne zu zerbrechen? Das Leben war einfach nicht fair.
Frustriert lehnte Julia sich zurück. Dann ging die Tür eines der unzähligen Behandlungsräume auf und Hannah trat heraus. Ihr Gesicht wirkte blass und ihr Gang war noch etwas unsicher, aber ansonsten schien offenbar alles okay zu sein. Julia sprang eilig auf und lief auf sie zu. Direkt gefolgt von Tanja und Coco.
»Da bist du ja.« Sie drückte Hannah fest an sich. »Geht es dir gut?«
Die Angesprochene lächelte schwach. »Ja. Ja, mir geht es gut. Es war nur der Kreislauf.«
»Was um alles in der Welt ist denn nur passiert?« wollte Coco wissen. »Die sagen alle es hat eine Explosion gegeben?«
Hannahs Lächeln schwand. »Ja.«
»Ich verstehe das nicht. Die ganze Schule ist explodiert?« wiederholte Tanja noch immer fassungslos.
Hannah drehte den Kopf zur Seite und starrte ins Leere. »Es ist alles zerstört. Die Schule, der Eisplatz. Überall war nur Feuer und Schutt. Ich habe versucht Max zu finden. Dabei bin ich eingebrochen und habe wohl das Bewusstsein verloren.«
Hannah machte eine kurze Pause, dann sah sie mit Tränen in den Augen wieder ihre Freundinnen an. »Ich habe ihn nicht gefunden.« Die Erinnerungen holten sie ein. Ob sie es wollte oder nicht erschienen ihr wieder die enormen Flammen und die endlose Zerstörung. Und irgendwo dort draußen war Max. Alleine und hilflos.
Sie hatte ihn im Stich gelassen. Es war ihre Schuld. Sie war seine Schwester und nicht rechtzeitig da gewesen. Ihre Beine gaben nach und sie stützte sich auf eine der Stuhllehnen. Sie spürte, dass ihr jemand eine Hand auf die Schulter legte und sanft darüber streichelte. »Vielleicht