Langsam stützte er seine Hände auf das Geländer, dann drehte er sich um. Sein Körper schmerzte noch ein wenig von seinem letzten Einsatz. Vor allem sein linkes Bein bereitete ihm Probleme. Vor ein paar Tagen hatte sein Knie einen erheblichen Schlag abgekommen. Ein paar seiner Rippenknochen waren geprellt und an seinen Armen prangerten ein paar ziemlich übliche blaue Flecke. Alles Dinge, die wieder verheilten. Er hatte schon Schlimmeres wegstecken müssen.
Tom trat zwei große Schritte nach vorn, zog die Tür des Präsidiums wieder auf und lief direkt in Richtung des Büros des leitenden Beamten des Zeugenschutzprogramms.
Hier war er nun, in der Hoffnung, bereit dafür zu sein, sich seiner nächsten Aufgabe zu stellen, die vermutlich die Schwierigste seines Lebens sein würde.
Mit einem lauten Knall flog das Tablett mit fein säuberlich darauf gestellten Tassen und Tellern zu Boden. Hannah Christensen stolperte hinterher und wäre beinahe in dieses Scherbenmeer geflogen. »Verfluchter Mist!« Sie fing sich gerade noch rechtzeitig am Rand des Tresens und starrte dann stöhnend auf den Haufen kaputten Geschirrs vor ihr.
Normalerweise war sie niemand der sich selbst bemitleidete oder auf die Nerven fiel, aber heute war so ein Tag bei dem auch überhaupt nichts funktionierte. Erst hatte sie verschlafen, dann hatte ihr Fön den Geist aufgegeben, sodass sie mit noch fast komplett nassen Haaren und einem Schwall aus unzähmbaren Locken vor dem Spiegel gestanden hatte und zu guter Letzt war auch noch ihr Handy ins Wasser gefallen. Dabei war es gerade einmal 11:00 Uhr morgens, was das Ganze nicht gerade besser machte.
In vier Stunden musste sie ihren kleinen Bruder vom Eishockeytraining abholen, aber jetzt galt es zunächst einmal ihre Schicht im »Sanders« relativ glimpflich zu überstehen, dem Lokal, in dem sie seit knapp zwei Jahren arbeitete. Was angesichts des Trümmerhaufens vor ihr heute ebenfalls nicht reibungslos zu gelingen schien. Frustriert holte sie Schaufel und Besen hinter dem Schanktresen hervor und fing an, die einzelnen Scherben aufzukehren. Manchmal wünschte sie sich, dass ihr Leben anders wäre. Einfacher. Nicht so zerbrochen, wie die Teller vor ihr. Am liebsten würde sie es manchmal genauso in den Müll werfen wie gleich dieses kaputte Porzellan. Aber das ging eben nicht.
Ihr Leben war so wie es nun einmal war. Daran konnte sie nichts ändern, ganz gleich wie sehr sie es auch wollte.
Seit sie geboren wurde lebte sie in einem Zeugenschutzprogramm unter falschem Namen und immer wieder verschiedenen Orten. Sie hatte schon so viele Länder bereist, dass es fast an ein Wunder grenzte, dass sie sich noch an alle von ihnen erinnern konnte. Immer umgeben von Menschen die sie und ihre Familie schützen sollten.
Das Leben in einem Zeugenschutzprogramm war hart und auch äußerst einsam. Es gab nicht viele Leute mit denen man Kontakt haben durfte, ganz zu schweigen davon, dass es fast unmöglich war, Freunde zu finden. Jedes Mal wenn sie glaubte, sich irgendwo eingelebt zu haben mussten sie wieder verschwinden. Monat für Monat, Jahr für Jahr. Immer und immer wieder.
Warum das so war wusste sie nicht. Niemand hatte je darüber gesprochen und irgendwann hatte sie es aufgegeben danach zu fragen. Was hätte es geändert?
Ein solches Versteckspiel verfolgte einen meist das ganze Leben.
Aber sie war damit aufgewachsen und konnte damit umgehen. Bis zu jenem Tag, der erneut alles verändert hatte. Jener Tag, heute vor ziemlich genau drei Jahren.
Nicht, dass es nicht schon schwierig genug gewesen wäre, aber ab diesem Zeitpunkt war nichts mehr wie vorher.
Sie waren wieder umgezogen. Diesmal war es ein kleiner Ortsteil von Hamburg. Ein kleines Häuschen mit Vorgarten und grünen Fensterläden.
Wieder musste sie ihre alte Uni verlassen, ihre Studienkollegen und ihr altes zu Hause.
Sofern man bei ständigem Umziehen überhaupt von einem zu Hause reden konnte.
Damals war sie gerade vierundzwanzig und mitten in ihrem Studium für Erziehungswissenschaften gewesen.
Ihr kleiner Bruder ging gerade einmal in die zweite Klasse der Grundschule.
Nun hieß es wieder neue Menschen und neue Heimat.
Aber dass es dieses Mal auch hieß ihre Eltern zu verlassen, das war neu.
Nach gerade einmal zwei Wochen in Hamburg waren sie verschwunden gewesen. Einfach so. Ohne Abschied, ohne jegliche Vorwarnung. Am Morgen waren sie noch gemeinsam am Frühstückstisch gesessen, am Abend waren sie fort. Und von diesem Tag an hatte sie ihre Eltern nie wieder gesehen. Seit diesem Tag vor drei Jahren war sie für sich und ihren mittlerweile zehnjährigen Bruder allein verantwortlich.
Sie war darauf vorbereitet gewesen, dass so etwas passieren konnte. Bei ihrem Leben wurde man mit allen möglichen Konsequenzen vertraut gemacht. Es war von Anfang an so bestimmt gewesen. Sie hatte es geahnt, so viele Stunden damit verbracht darüber nachzudenken was geschehen würde, wenn all das eintreffen würde was so krampfhaft versucht wurde zu verdrängen. Die Wahrheit. Und die war nun einmal, dass ihre Eltern auf der Flucht waren, vor sich selbst und ihrer Vergangenheit. Aber das alles war bedeutungslos geworden in diesem Meer der Wirklichkeit.
Heute hatte sie gelernt damit umzugehen. Es war nicht leicht gewesen, aber sie hatte es geschafft. Sie hatte sich und ihrem kleinen Bruder wieder ein einigermaßen normales Leben aufgebaut.
Ein Leben, auf das sie in Anbetracht ihrer Situation durchaus stolz sein konnte. Seit drei Jahren lebten sie jetzt nun schon in ein und derselben Stadt. Ein fast unglaubliches Phänomen betrachtete man die Tatsache, dass sie früher fast jedes halbe Jahr umgezogen waren. Aber komischerweise hatte sie seit dem Zeitpunkt, als ihre Eltern nicht mehr bei ihnen waren, niemand mehr fortgebracht. Jetzt hatte sie endlich das, was sie immer wollte. Aber zu welchem Preis?
Gedankenversunken warf Hannah die aufgekehrten Scherben in den Müll. Sie musste aufhören, ständig daran zu denken.
Sie hatte nette Leute kennengelernt, einen tollen Chef und endlich Freundinnen mit denen sie über lauter unnütze Dinge reden konnte. Natürlich war Kellnerin nicht ihr Traumberuf, aber es machte Spaß und sie beklagte sich nie. Irgendwann würde sie ihr Studium fortsetzen oder neu anfangen können und Erzieherin werden. Aber das war nicht wichtig. Im Augenblick zählte nur ihr Bruder und seine Chance auf eine zumindest halbwegs normale Zukunft. Und wenn das bedeutete, dass sie ihr Leben lang als Kellnerin arbeiten musste, nun, dann war das eben so. Sie hatte schon vor Jahren aufgegeben, sich zu fragen, was gewesen wäre, wenn ihre Eltern nicht in diesem Zeugenschutzprogramm gelebt hätten. Denn diese Möglichkeit gab es nicht. Sich Gedanken über Dinge zu machen, die ohnehin nie eintreffen konnten, wäre sinnlos und würden nicht das Geringste ändern.
Das Leben hatte ihr übel mitgespielt, aber sie hatte es geschafft daraus zu entkommen. Und auch, wenn die Vergangenheit immer ihr Schatten bleiben würde, so konnte sie zumindest sagen, dass die Sonne jetzt nicht mehr dauernd so schien, dass man ihn sehen konnte.
Der Zeiger der uralten Micky-Maus-Uhr oberhalb der Eingangstüre des »Sanders« wanderte auf Punkt drei Uhr und es erklangen drei leise Gongschläge. »Verdammt, ich komme zu spät!« stellte Hannah mehr zu sich selbst als zu jemand Bestimmten fest und trug eilig noch eine Portion Hähnchennuggets an einen der Tische. Die Stunden waren viel zu schnell vergangen. Aufgrund der immer wechselnden und günstigen Mittagsangebote war es meist ziemlich voll und da sie jeweils nur eine Bedienung hatten, blieb alles auch an dieser hängen. In diesem Fall also an ihr. Sie bemerkte zwei ihrer Freundinnen, Tanja und Coco, die ebenfalls an einer der Ecknischen saßen und sie zu sich winkten. Sie freute sich wirklich sie zu sehen aber ehrlich gesagt, hatte sie jetzt überhaupt keine Zeit. Eigentlich sollte sie nämlich bereits auf dem Weg zur Straßenbahn sein.
»Manchmal