Sie wollte Ann Marie von der Frau wegreißen, aus dem Haus zerren und ihr einen zornigen Vortrag über professionelles Verhalten abhalten. Doch das konnte sie nicht tun – nicht in diesem Moment, nicht ohne alles noch schlimmer zu machen. Sie musste bloß hoffen, dass die Situation sich nicht genauso entwickeln würde, wie sie befürchtete.
Mit einer warmen, leisen Stimme sagte Ann Marie: „Ms. Hillis, ich möchte Sie um etwas bitten. Wäre das in Ordnung?“
Lauren nickte.
Ann Marie ließ die Hand der Frau los, holte ihr Handy raus und begann mit ihrem Finger darauf rumzuwischen.
Was macht sie jetzt? fragte Riley sich.
Dann sagte Ann Marie: „Ich habe dieses Foto heute Morgen am Tatort gemacht. Hatte Ihre Tochter ein Muttermal auf ihrer rechten Wange. Eins wie dieses?“
Ann Marie zeigte ihr das Foto auf ihrem Handybildschirm. Laurens Augen wurden groß und sie wurde etwas blasser. Dann ließ sie einen langen, komischen Seufzer der Überraschung aus, der irgendwie gleichzeitig entsetzt und erleichtert klang.
Sie schaute direkt in Ann Maries Augen.
„Das ist sie“, flüsterte sie. „Das ist sie wirklich.“
Ann Marie nickte und sagte: „Das haben wir befürchtet. Es tut mir leid.“
Zu Rileys Überraschung brach die Frau nicht in Tränen aus. Stattdessen schaute sie zum Sheriff, dann zu Riley und dann erneut zu Ann Marie. Sie sprach mit einer Stimme, die tiefen Ärger vermuten ließ.
„Sie müssen denjenigen finden, der ihr das angetan hat.“
Ann Marie nickte. „Das ist wozu meine Partnerin und ich hier sind. Wir wären wirklich dankbar für Ihre Hilfe.“
„Natürlich“, sagte Lauren.
Riley spürte ein Kribbeln von unerwartetem Optimismus. Lauren schien plötzlich viel klarer im Kopf zu sein, als sie es gewesen war.
Vielleicht hält das nicht lange an, dachte Riley.
Vielleicht ist die Wahrheit noch nicht ganz durchgesickert.
Doch in der Zwischenzeit konnte Lauren vielleicht einige ihrer Fragen beantworten.
Riley sagte: „Könnten Sie uns vom letzten Mal erzählen, dass Sie ihre Tochter gesehen haben?“
Lauren nickte.
“Es war ungefähr um halb neun am Abend von Halloween. Sie hatte gerade ihr Skelettkostüm angezogen und sie ist ins Wohnzimmer gekommen – genau hier – um es ihrem Vater und mir vorzuführen. Wir fanden es alle ziemlich lustig. Sie sagte dann, dass sie sich jetzt auf den Weg zur Party machen würde.“
„Zur Party?“, fragte Riley.
„Drüben bei Patsy Haley zuhause, im Hobbyraum ihrer Familie“, sagte Lauren. Patsy war eine Freundin von Allison und wir kennen ihre Familie seit Jahren. Sie haben jedes Jahr eine Halloween Party veranstaltet und Allison hat sich dort immer gut amüsiert. Brady und ich waren uns sicher, dass alles gut sein würde.“
„Wie ist sie zur Party gekommen?“, fragte Riley.
„Sie ist gelaufen“, sagte Lauren. „Das Haus ist nur einige Blocks entfernt und unsere Straßen sind normalerweise sehr sicher.“
Lauren starrte einen Moment lang ins Leere und wiederholte: „Wir waren uns sicher, dass alles gut sein würde.“
Die Frau schwieg, doch Riley wusste, dass sie sie nicht mit den Fragen ködern brauchte.
Sie wird von sich aus reden.
Wie erwartet fuhr Lauren bald fort: „Dann, gegen neun Uhr dreißig, rief Patsy bei uns an. Sie bat Allison an den Apparat. Sie wollte wissen, wieso sie noch nicht auf der Party war. Sie lachte und sagte: ‚Ich rufe an, um ihr zu sagen, sie soll ihren Popo hierher bewegen.‘ Ich habe Patsy gesagt… dass Allison nicht hier war und…“
Lauren verstummte, dann sagte sie: „Da haben Brady und ich begonnen uns Sorgen zu machen.“
Ihre Miene verdüsterte sich, als sie Sheriff Wightman zornig anstarrte.
Sie sagte: „Da haben wir dich angerufen, Emory. Ich habe dir gesagt, dass Brady und ich nicht wussten, wo Allison war, obwohl sie auf der Party sein sollte und ich habe dich gebeten zu versuchen sie zu finden.“
Laurens Lippen verzogen sich vor Zorn.
Sie sagte zu Wightman mit einem leichten Knurren: „Du hast mir gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen. Du hast gesagt, es sei Halloween und Allison könnte allerorts sein. Teenager schmissen in ganz Winneway Partys, hast du gesagt. Allison könnte auf jeder davon sein, hast du gesagt.“
Der Sheriff sah getroffen aus.
„Lauren…“, sagte er.
Die Frau fuhr fort: „Ich habe dir gesagt, dass etwas nicht stimmte. Ich habe dir gesagt, dass es Allison einfach nicht ähnlichsah, irgendwo hinzugehen, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. Und da wurdest du gereizt. ‚Es ist der Abend von Halloween‘, sagtest du. ‚Soll ich etwa irgendeinen Suchtrupp rausschicken? Meine Leute haben alle Hände voll zu tun mit Kindern, die Streiche spielen.‘“
Lauren wand sich vom Sheriff ab und fügte hinzu: „Du hast versprochen, dass alles in Ordnung sein würde. Erst als sie die ganze Nacht über verschwunden war, habt ihr begonnen nach ihr zu suchen. Und da war es bereits zu spät.“
Ein düsteres Schweigen folgte. Riley tat der Sheriff leid. Von dem, was Lauren sagte, hatte er offensichtlich nichts falsch gemacht. Freilich, Riley wusste, dass die meisten Sheriffs nicht einmal am nächsten Tag mit der Suche begonnen hätten. Es hätten Tage vergehen können, bevor sie die Situation ernst genommen hätten.
Endlich gab Lauren ein schluchzendes Geräusch von sich und begann zu weinen.
„Sie ist tot“, japste sie. „Sie ist wirklich tot.“
Ann Marie reichte Lauren ein Taschentuch. Dann nahm sie erneut Laurens Hand und streichelte sie vorsichtig.
Riley wusste, dass die Befragung hier vorbei war. Doch sie hatte sich nicht in die Katastrophe verwandelt, die sie befürchtet hatte. Obwohl die Angaben, die Lauren gemacht hatte der Polizei schon seit Langem vorliegen mussten, hatten sie den Ausgangspunkt von Rileys Ermittlungen bestätigt.
Riley erhob sich von ihrem Stuhl und sagte: „Ms. Hillis, wir danken Ihnen für Ihre Zeit und ihre Hilfe. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um denjenigen zu finden, der Ihrer Tochter das angetan hat.“
Lauren nickte schluchzend.
Ihr Bruder sagte: „Ich begleite Sie hinaus.“
Senator Danson führte Riley, Ann Marie und Sheriff Wightman zurück zur Eingangstür. Riley konnte sehen, dass seine Miene streng war, als er mit ihnen auf die Veranda hinaustrat.
Danson sprach zu Riley und ihrer Partnerin.
„Wie bald denken Sie werden Sie diesen Mörder schnappen?“, fragte er.
Riley war überrascht von dieser Frage. Sie klang überhaupt nicht wie eine Frage. Es klang so, als würde er erwarten, dass sie die Auffindung und Festnahme des Mörders präzise zeitlich festmachen könnten.
„Ich weiß es nicht“, sagte Riley. „Aber wir werden ihn finden.“
Danson verschränkte die Arme vor der Brust und sah alles andere als zufriedengestellt aus, sagte jedoch nichts mehr.
Als sie und ihre Kollegen von der Veranda herabgestiegen waren, blickte Riley auf die Nachbarschaft. Es wurde nun allmählich dunkel und die Rasenbeleuchtung begann anzugehen und Lichter auf die Häuser zu werfen. Sie konnte das grelle Orange einer Halloween Dekoration vor einem Haus auf der anderen Straßenseite ausmachen.
Halloween war beinahe hier. Würde der Mörder bald erneut zuschlagen? Wenn er das tat, würde es wieder in dieser selben schicken Nachbarschaftssiedlung sein?
Sie fragte Sheriff Wightman: „Ich nehme an, dass Sie die Gegend auf das Genauste