„Und dann haben Sie sie gefunden“, sagte Riley.
Wightman nickte. „Irgendwer muss sie dort irgendwann im Laufe des Jahres vergraben haben, ohne dass es irgendjemand mitbekam. Ich wünschte, wir hätten daran gedacht, den Ort beobachten zu lassen. Aber wie hätten wir irgendetwas dergleichen erwarten sollen?“
„Sie hatten keinen Grund anzunehmen, dass es sich um etwas anderes, als einen Streich gehandelt hatte“, stimmte Riley ihm zu.
„Aber diese ganze Sache war merkwürdiger, als ich mir jemals hätte vorstellen können“, antwortete Wightman. „Ich wusste, dass ich einige Möglichkeiten außer Acht gelassen hatte und ich könnte weitere außer Acht lassen. Also haben ich meinen Jungs heute Morgen gesagt, sie sollen den Tatort überwachen und habe die Verhaltensanalyse um Hilfe gebeten. Wir haben nicht einmal eine zeitliche Abfolge Aufstellen können, wann Allison tatsächlich hätte ermordet werden können und wie bald darauf sie vergraben wurde.“
Ann Marie meldete sich zu Wort.
„Naja, der Gerichtsmediziner stimmt mir zu, dass die Leiche einige Zeit lang eingefroren war, bevor sie vergraben wurde.“
Wightman bemerkte: „Wenn die Leiche also eingefroren wurde, wird das einen erheblichen Einfluss darauf haben, was er uns zum Todeszeitpunkt sagen können wird.“
Ann Marie nickte und fügte hinzu: „Vielleicht kann er eine genauere Zeitangabe hinbekommen, wenn er die Autopsie durchgeführt hat. Aber ich bezweifele, dass er ganz genau sagen können wird, wann sie umgebracht worden ist. Vielleicht ist sie kurz nach ihrem Verschwinden gestorben. Oder vielleicht einige Zeit danach. Vielleicht wurde sie eine Weile lang gefangen gehalten.“
Es war komisch für Riley zu hören, dass das Mädchen wie eine forensische Spezialistin redete.
Was für weitere Überraschungen hat sie noch im Ärmel? fragte sie sich.
Wightman seufzte und sagte: „Ich weiß nur, dass ich krank vor Sorge bin, was als Nächstes geschehen wird. Der neue Brief besagt, dass der Ziegenmann erneut ‚mahlen und singen wird in der Nacht auf Halloween‘. Das ist übermorgen.“
Rileys Kopf brummte vor Fragen. Sie sagte zum Sheriff: „Haben Sie irgendeine Ahnung was ‚Ziegenmann‘ bedeutet?“
Die Lippen des Sheriffs krümmten sich zu einer Grimasse.
„Das tue ich tatsächlich“, sagte er. „Der Ziegenmann ist in Maryland eine urbane Legende. Laut der verbreitetsten Version hat ein verrückter Wissenschaftler, der an Ziegen rumexperimentiert hat, sich ausversehen in eine hybride Kreatur verwandelt – halb Mensch, halb Ziege. Es wird erzählt, dass er auf dem Land sein Unwesen treibt, hungrig nach menschlichem Blut.“
Der Sheriff trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und fügte hinzu: „Die Ziegenmannlegende stammt ursprünglich nicht einmal aus diesem Teil Marylands. Ihm wird nachgesagt in der Nähe von Beltsville entlang der Fletchertown Landstraße umherzustreifen. Aber solche Geschichten verbreiten sich. Ich habe auch von Ziegenmann ‚Sichtungen‘ an anderen Orten des Staates gehört.“
Die ganze Sache begann einen merkwürdigen, kranken Sinn für Riley zu ergeben. Sie dachte an die Leiche am Tatort.
Sie sagte: „Die Leiche wies Hufabdrücke auf, wie die von einer Ziege.“
Ann Marie fügte hinzu: „Und die Wunde, die zum Tod geführt hat, sah aus, als würde sie von einem tierischen Horn stammen. Aber Ziegen sind Pflanzenfresser, oder nicht? Und sie sind eigentlich irgendwie süß.“
„Es ist nur eine Legende“, grunzte Wightman. „Ich nehme nicht an, dass irgendjemand von uns hier glaubt, dass Allison von einer Ziege aufgespießt wurde, die sie dann zertrampelt hat – noch weniger, dass sie von irgendeinem halb-menschlichen halb-Ziegenwegen ermordet worden ist. Aber wer auch immer sie ermordet hat, wollte, dass es so aussieht.“
Riley nickte und sagte: „Und er würde es lieben, wenn die Öffentlichkeit beginnt an den Ziegenmann zu glauben – und daran, dass er ‚hungrig‘ ist, wie es im Brief steht. Sind diese Briefe öffentlich bekannt?“
Wightman schüttelte den Kopf.
„Die einzigen, die davon wissen sind ich und die Jungs, die beim Ausgraben dabei waren. Selbst nachdem wir den ersten Brief erhalten haben, habe ich die Kerle schwören lassen, dass sie es geheim halten. Damals hatte ich dem Mistkerl, der den Brief geschickt hatte, nicht die öffentliche Anerkennung geben, die er offensichtlich suchte.“
„Das war eine kluge Entscheidung“, sagte Riley. „Versuchen Sie die Dinge so beizubehalten. Ich nehme an, dass es bereits bekannt geworden ist, dass Allison Hillis ermordet wurde. Aber die Details müssen wir so lange wie möglich geheim halten. Die ganze ‚Ziegenmann‘ Komponente könnte es sehr viel schwieriger machen den Fall zu lösen, wenn sie die Öffentlichkeit in Aufruhr versetzt. Dann könnte es zu einem wahren Zirkus werden.“
Riley dachte einen Moment lang schweigend nach, während sie auf die beiden Briefe starrte.
Sie war sich einer Sache sicher – dass Wightman recht gehabt hatte, als er die Verhaltensanalyseeinheit angefragt hatte. Ob sie es nun mit einem Serienmörder zu tun hatten oder nicht, sie hatten es auf jeden Fall mit einem unikalen Fall eines Psychopathen zu tun.
Dann fragte Riley Wightman: „Hat der Ausdruck ‚Ziegenlied‘ für sie irgendeine Bedeutung?“
Wightman zuckte mit den Schultern: „Das ist nur ein Teil der Legende, nehme ich an. Ich habe selbst nie davon gehört. Aber Sie wissen wie es ist mit diesen Wandermärchen ist. Es gibt allerlei Varianten und Unterschiede. Vielleicht soll in irgendeiner dieser Versionen der Ziegenmann auch noch singen.“
Riley wusste, dass er womöglich recht hatte. Trotzdem hatte sie die Vermutung, dass der Ausdruck irgendeine Bedeutung hatte, die sie lieber nicht übersehen sollten.
Wightman sagte: „Was mich gerade am meisten besorgt, ist die Anspielung auf Halloween. Meinen Sie der Mörder könnte versuchen übermorgen Abend jemanden zu entführen?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Riley. „Und ich will keine Panik anstiften, indem wir jetzt schon eine Warnung rausschicken. Wenn wir uns ranmachen und unsere Arbeit erledigen, könnten wir den Mörder vorher schnappen.“
„Was machen wir als Nächstes?“, fragte Wightman.
Riley hielt inne und dachte einen weiteren Moment nach. Dann fragte sie: „Lebt Allison Hillis‘ Familie hier in Winneway?“
Sheriff Wightman nickte.
Riley sagte: „Ich würde ihnen gerne einen Besuch abstatten und einige Fragen stellen.“
Wightman seufzte und sagte: „Agentin Paige, ich weiß nicht, ob das zum jetzigen Zeitpunkt so eine gute Idee ist.“
„Wieso nicht?“, fragte Riley.
„Wie Sie sich vorstellen können, ist es die reine Hölle für Allisons Eltern gewesen, seitdem sie verschwunden ist. Sie haben nie die Hoffnung aufgegeben, dass ihre Tochter irgendwann lebendig und wohlauf wieder auftauchen würde. Ich habe ein paar meiner Leute heute Morgen zu ihnen nach Hause geschickt, um ihnen von der Leiche zu berichten, die wir gefunden haben.“
„Wie haben sie es verkraftet?“, fragte Riley.
„Allisons Vater, Brady, war nicht zuhause. Er ist in London auf einer Geschäftsreise. Aber meine Männer haben mit ihrer Mutter, Lauren, gesprochen. Sie haben mir gesagt, dass sie es komplett verleugnet. Sie sagte immer wieder, dass die Leiche nicht ihre Tochter sein könnte, dass es jemand anderes sein muss, der das Kostüm trägt, das sie an dem Abend anhatte.“
Wightman zuckte erneut mit den Schultern: „Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass es Allison ist. Aber ich kann es noch nicht