Diese Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen ist wichtig und hilfreich. Sie zeigt die innere Widersprüchlichkeit politischen Agierens – und dass Demokratie permanent neu errungen, neu gegründet werden muss. Indem sie außerdem die Möglichkeit politischer Imagination, eines alternativen Denkens und Handelns eröffnet, ermöglicht sie nicht nur, die zahlreichen außerparlamentarischen Bewegungen weltweit zu verstehen, sondern auch das besondere Potential von Kunst als politischem Raum zu fassen.
Aber der Fokus auf das Politische birgt auch das Risiko eines reinen »Philosophismus«, wie Marchart es nennt: »Der Glaube an ein ›reines‹ Politisches wird dann zur intellektuellen Spielart einer destruktiven Politikverdrossenheit, statt produktives eigenes Handeln zu ermutigen.« Dass sich das durchaus auch auf die Kultur übertragen lässt, merkt Marchart an anderer Stelle selbst an: »Eine vergleichbare Operation findet sich übrigens im Kunstdiskurs, wenn behauptet wird, alle Kunst sei an sich schon politisch, um damit letztlich nichts anderes zu bezwecken, als die Delegitimierung tatsächlich politischer Kunst.«28
Tatsächlich wurde eine Generation von PhilosophInnen, die ihre Theorien direkt aus ihren eigenen politischen Erfahrungen und Engagements hergeleitet hatte (Michel Foucault kämpfte mit der Groupe d’information sur les prisons für Menschenrechte in Gefängnissen, Alain Badiou engagierte sich in der Organisation politique für Migration und Asylpolitik, Jacques Rancière war kurzzeitig Mitglied einer Maoistengruppe – um nur einige zu nennen), nach und nach von PhilosophInnen (und KünstlerInnen, DramaturgInnen, KuratorInnen etc.) abgelöst, die auf deren Überlegungen aufbauten und sie weiter abstrahierten – aber allzu oft, ohne sie erneut an die eigene gegenwärtige, konkrete Realität rückzubinden.
Und so hat sich auch die Theaterwelt weitgehend daran gewöhnt, philosophische Theorien und Kunstwerke politisch zu nennen, selbst wenn sie nur auf Ideen beruhen, die bereits von den konkreten politischen Impulsen, die sie entzündeten, abstrahiert wurden. Ein homöopathisches Secondhand-Verständnis politischer Philosophie und Kunst ist zur Grundlinie vieler zeitgenössischer kultureller Diskurse geworden.
Dabei manövriert uns das konstante Bewusstsein um die Komplexität von Begriffen wie Wahrheit, Realität oder auch Politik nicht selten in eine Sackgasse: Entweder begreifen und beschreiben wir die Welt zu einfach oder zu komplex, zu populistisch oder zu eremitisch. Wir schließen zu viel ein oder zu viel aus. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo das nötige Bewusstsein darüber, dass alles kontingent ist, zu oft zur Entschuldigung für intellektuellen Relativismus geworden ist.
Besonders die Schriften von Jacques Rancière werden seit den späten 1990ern gern hierfür in Stellung gebracht. Seine Skepsis gegenüber jedem klaren politischen Statement in der Kunst und sein starkes Vertrauen in die Kraft ihrer »Unbestimmtheit«29 halfen, den Weg für sehr weite Definitionen des Politischen zu bereiten. Seine These, Kunst sei vor allem widerständig, indem sie »die Ordnung der Wahrnehmung durchbricht und die sinnlichen Hierarchien erschüttert«30, wurde vielfach zum Blankoscheck einer Kunst, die zwar (oft auch nur vermeintlich) Sehgewohnheiten irritiert, aber ansonsten kein politisches Anliegen erkennen lässt.
Das Diktum Hans-Thies Lehmanns, »im Wie der Darstellung« sei »das Politische, die politische Wirkung, die politische Substanz [des Theaters] zu suchen«,31 wird von derzeitigen politisch engagierten TheatermacherInnen variiert und ergänzt: Die politische Substanz des Theaters liegt darin, das Was und das Wie der Darstellung in Einklang zu bringen. Denn so groß das politische Potential einer Ästhetik der Irritation und der veränderten Wahrnehmungen auch ist – die Auseinandersetzung mit einem konkreten Gegenstand ersetzt sie nicht.
Wissend, dass die Frage nach Repräsentation nie eine rein formale ist, haben TheatermacherInnen in jüngster Zeit zunehmend versucht, ein selbstreflexives Bewusstsein für Fragen der Form zu bewahren und es zugleich für konkrete politische Inhalte zu nutzen – und so Komplexität und Klarheit im Wechselspiel von Ästhetik und Ethik künstlerisch miteinander zu verbinden.
Anthropozän, Animismus und Post-Humanismus
Doch die Frage, wer oder was hier eigentlich repräsentiert wird, zieht noch weitere Kreise: In den letzten Jahren hat sich zunehmend die Vorstellung durchgesetzt, dass wir in einem neuen Zeitalter leben, dem Anthropozän; einer Ära, die, wie der Name sagt, maßgeblich vom Menschen beeinflusst ist.
Dass die Menschheit den Planeten massiv verändert hat, mag erst einmal nicht weiter überraschend klingen. Das Konzept des Anthropozän allerdings geht buchstäblich tiefer; es ist kein kulturhistorisches, sondern ein geochronologisches: Die Spuren der Menschheit lassen sich nicht nur an der Oberfläche, sondern langfristig oder gar für immer in den geologischen, biologischen und atmosphärischen Prozessen der Erde nachweisen.
Dieser Befund hat auch in der Kunst die drängende Frage nach grundlegend anderen Lebensmodellen aufgeworfen, darunter diverse Varianten eines neuen Materialismus und Theorien eines Trans- oder Posthumanismus (der in verschiedenen Spielarten den Menschen zumindest aus dem Zentrum der Schöpfung vertreibt, ihn neu konfiguriert – oder gar ganz abschafft). Dabei ist vor allem das ursprünglich aus der Ethnologie des 19. Jahrhunderts stammende Konzept des Animismus – also die Auffassung, dass alles auf der Erde Seele oder Geist habe, auch Tiere, Pflanzen, Steine, Flüsse … – zum Ausgangspunkt zahlreicher neuer Überlegungen geworden. Im künstlerischen Diskurs hat besonders eine Ausstellung gleichen Namens im Berliner Haus der Kulturen der Welt (2012) die Grenzen zwischen Leben und Nicht-Leben verwischt und so, als Kritik am Entweder-oder-Dualismus der Moderne, einen anderen Blick auf uns umgebende »belebte Materie, beseelte oder sozialisierte Natur, handelnde Dinge, Geister, Verwandlungen«32 und deren Repräsentation gefordert.
Einer der prominentesten Vertreter einer solchen Grundsatzkritik an der Moderne ist – neben der Biologin und Feminismustheoretikerin Donna Haraway und der Philosophin Isabelle Stengers – der französische Wissenschaftssoziologe Bruno Latour, der das Soziale um nichtmenschliche Akteure erweitern und die Unterscheidung zwischen vermeintlichen Gegensätzen wie Subjekt und Objekt auflösen will. Das von ihm entworfene »Parlament der Dinge« soll Menschen, Tieren, Pflanzen, Gegenständen als AkteurInnen und »AktantInnen« (wie er nichtmenschliche AkteurInnen bezeichnet) ermöglichen, gemeinsam selbst zu bestimmen, wie sie überhaupt entscheiden und wie sie zusammenleben wollen.33
Sich dies als eine, wenn auch utopische, Theateraufführung vorzustellen, ist vermutlich nicht verkehrt. Schließlich stammt der Ausdruck »AkteurIn« – ein zentraler Begriff in Latours Theorie –, wie er selbst an anderer Stelle schreibt, »aus der Bühnenwelt.« Ihn »zu verwenden bedeutet, dass nie klar ist, wer und was handelt, wenn wir handeln, denn kein Akteur auf der Bühne handelt allein.«34 Man kann dabei an den polnischen Theatererfinder Tadeusz Kantor denken, der in legendären Arbeiten wie Die tote Klasse (1975) Puppen, Gegenstände und SchauspielerInnen als gleichberechtigte PerformerInnen verstand. Menschen und Dinge verschmelzen zu »Bio-Objekten«.
Und so schließt die Auseinandersetzung mit Repräsentation im Theater, konsequent weitergedacht, auch nichtmenschliche Wesenheiten mit ein, wenn etwa Mette Ingvartsen in evaporated landscapes (2009) imaginäre Landschaften aus Nebel und Licht choreografiert, Jozef Wouters das Naturhistorische Museum in Brüssel um ein Zoological Institute for Recently Extinct Species (2013) erweitert oder David Weber-Krebs in seinem Langzeit-Projekt Balthazar (seit 2011) einen Esel als ziemlich eigensinnigen Performer auf die Bühne und damit die anderen SchauspielerInnen in die Situation bringt, immer antizipieren zu müssen, wie das Tier reagiert, wie es handelt, wie es den Raum begreift.35
Solche Arbeiten werfen in erster Linie Fragen auf; Fragen, die auf den politischen Tagesordnungen in der Regel nicht gerade weit oben stehen. Wie jene, die zum Ausgangspunkt für das spielerische Projekt Animals of Manchester (including HUMANZ) (2019) der Hamburger Theatermacherin Sibylle Peters wurden: »Was, wenn Tiere die gleichen Rechte hätten, Bürgerrechte hätten; was, wenn wir Menschen das Recht hätten, unsere Tierhaftigkeit einzufordern, wenn keine Spezies besser oder schlechter