Anta Helena Reckes Mittelreich-Kopie zeigt, wie sehr alle am Theater Beteiligten – ob SchauspielerInnen, PerformerInnen, ZuschauerInnen oder KritikerInnen – immer auch als RepräsentantInnen einer größeren Gemeinschaft wahrgenommen werden, unterschieden durch Hautfarbe, Gender, Körperlichkeit, soziale Schicht, Berufsstand … So spiegeln sich die Fragen, die gegenwärtig alle Demokratien verfolgen – Wer wird auf welche Weise, von wem und mit welchem Recht repräsentiert? – im Theater wider: Kann eine bürgerliche Schauspielerin eine Geflüchtete repräsentieren? Kann der Westen den globalen Süden repräsentieren? Kann ein Mann eine Frau repräsentieren? Ist die Repräsentation von Stereotypen und Klischees (von Ethnien, Geschlechtern, Sexualität etc.) entlarvend oder einfach nur die Wiederholung entwürdigender Beleidigungen?
Die Probleme, die durch jüngere Diskussionen rund um black face (das Schwarzschminken weißer SchauspielerInnen), das Verwenden als diffamierend empfundener Bezeichnungen und Ähnliches manifest wurden, stellen weit mehr in Frage als nur das Recht und die Befähigung weißer SchauspielerInnen, Charaktere of colour darzustellen. Es sind politisch und künstlerisch komplexe Herausforderungen, die – wie der gesamte postkoloniale Themenbereich – im deutschen Theater spät angekommen sind. Postmigrantische Ansätze, die hervorheben, wie sehr unsere Gesellschaft durch Migration bereits verändert ist, prägen beispielsweise das Programm des Berliner Gorki-Theaters unter der Leitung von Shermin Langhoff und Jens Hillje mit seinem kulturell und ethnisch sehr diversen Ensemble. Das setzt auch andere Stadttheater unter Druck, während Häuser wie das Berliner Ballhaus Naunynstraße oder junge KünstlerInnen of colour wie Simone Dede Ayivi oder Anta Helena Recke eine Sichtbarkeit schwarzer Körper und Biografien auf der Bühne einfordern.11
Dass ein weißer Körper als neutral angesehen wird, während ein schwarzer immer bereits eine besondere Bedeutung hat, steht auch im Zentrum der Arbeit Black Bismarck (2015) des Theaterkollektivs andcompany&Co., die sich auf Überlegungen der critical whiteness studies bezieht, die »Weißsein« als soziale Machtkonstruktion beschreiben:
Ein Gespenst geht um in Europa. […] Das Gespenst des Kolonialismus. Die Europäer nennen ihn nur den Geist. Den Geist lockt das Weiß, das Weiß des unbeschriebenen Papiers, die weißen Flecken auf der Karte. Am Anfang war nicht das Wort, am Anfang war die leere Seite. Das Wunder der Schöpfung aus Nichts wiederholt sich jedes Mal aufs Neue, wenn Zeichen die weiße Leere füllen, mit Schwärze, Druckerschwärze. Schwarz wie das Pulver, das man in die Gewehre lädt oder schwarz wie die Nacht, wie man so sagt. Doch nachts sind alle Katzen grau, man bleibt anonym, aber man vergibt Namen – und dieses man ist weiß. Das ist die Lektion der critical whiteness für überprivilegierte Unterpigmentierte: Man ist nicht normal, man ist nicht neutral, man ist weiß. Man ist ein Geist.12
Ikonoklastisch, wortspielüberbordend und – wie immer in den Arbeiten von andco. – mit Pop-Zitaten gespickt sucht Black Bismarck zum 200. Geburtstag des »eisernen Kanzlers« nach afrikanischen Spuren in Berlin und erteilt der verbreiteten Auffassung, die deutsche Kolonialzeit sei – trotz Völkermords an den Herero – im Schatten späterer, noch schlimmerer deutscher Verbrechen doch vergleichsweise kurz und harmlos gewesen, eine klare Absage. Vor allem aber ist der Abend ein Versuch, sich als »überprivilegierte Unterpigmentierte« nicht anzumaßen, für andere zu sprechen oder sie zu repräsentieren.
Die Strategie der appropriation, die Recke mit Mittelreich verhandelt, hat noch einen weiteren komplexen Aspekt: Als Miley Cyrus, Popsängerin mit sicherem Instinkt für skandalprovozierende Selbstvermarktung, vor einigen Jahren bei den Video Music Awards eine twerking-Choreografie aufführte, wurde das heftig und polemisch diskutiert: Stahl da eine weiße Frau ein Stück afroamerikanischer kultureller Identität für den eigenen nächsten Hit? War ihre Aneignung des rhythmischen, sexuell expliziten Hinternschüttelns eine Hommage oder eine Karikatur? Auch das ist eine Frage der Machtverhältnisse: Die Aneignung von »unten« nach »oben« ist Selbstermächtigung, Integration, Assimilation, Identitätserweiterung oder Identitätsverlust. Die Aneignung in die umgekehrte Richtung – Raub? Verstehen-Wollen? Anerkennung?
Die Theatermacher Julian Warner und Oliver Zahn verfolgen in ihrer Performance Situation mit Doppelgänger (2015) die Aneignung und Vermarktung schwarzer und anderer minoritärer Tanzformen im Pop zurück bis in die Zeit der Minstrel Shows des 19. Jahrhunderts, in denen geschminkte Weiße stereotypische Schwarze darstellten – mal romantisierend, mal gehässig. Später wurden auch schwarze TänzerInnen und MusikerInnen selbst für solche Shows engagiert, ein Klischee im Feedbackloop.
Die Fragen, die solche kulturellen Aneignungen aufwerfen, sind seither die gleichen geblieben: Wem gehören solche Tänze, wer darf sie tanzen? Wann ist Imitation ein subversives Mittel, wann verstärkt sie existierende Machtstrukturen? In Situation mit Doppelgänger interpretieren Warner und Zahn – der eine schwarz, der andere weiß, aber beide keine ausgebildeten Tänzer – synchron sehr unterschiedlich konnotierte Minstrel-, Pop- und Volkstänze, in denen nicht nur Weiße Schwarze, sondern in einer Art Selbstermächtigung umgekehrt auch schwarze Tänzer die weißen Kolonialherren imitieren. Auf dünnem Eis untersuchen die beiden – analytisch und spielerisch zugleich – Modelle von Authentizität, Identität und Deutungshoheit.
Dass solche Konstruktionen permanent neu ausgehandelt werden müssen, prägt unübersehbar die Performances der deutschivorischen Gruppe Gintersdorfer/Klaßen – nicht nur thematisch und ästhetisch, sondern vor allem auch in der kollaborativen Form ihres Entstehens. Wenn »die Tänzer singen, die Comedians tanzen, die Sänger texten«, dann ist das für Gintersdorfer/Klaßen ein bewusstes
Spekulieren in fremden Kompetenzen […], mit dem wir der Repräsentationslast entgehen und eine direkte Kommunikation ermöglichen. Diese Kommunikation findet auf allen Ebenen statt und beinhaltet auch das Publikum als Mitdenker und eventuell Sprecher. In diesem System gibt es keine Störung durch Unvorhergesehenes, es ist eine diskursive Dramaturgie und keine der geregelten, getimten Abläufe. Nicht getimt bedeutet nicht schlecht getimt oder langsam, sondern getimt im Verhältnis zum Moment.13
Der Titel ihrer Performance Das neue schwarze Denken – Chefferie (2013) verweist auf ein politisch-administratives Modell der Versammlung vieler gleichberechtigter Chefs aus vorkolonialen Zeiten, das in Subsahara-Afrika bis heute parallel zu offiziellen staatlichen Strukturen praktiziert wird. Damit ist »Chefferie« auch eine Metapher für die eigene Zusammenarbeit der deutschen Regisseurin Monika Gintersdorfer mit meinungsstarken PerformerInnen von der Elfenbeinküste, aus Deutschland und in diesem Fall auch aus Ruanda und Kongo. Obwohl Gintersdorfer nie selbst im Rampenlicht der Aufführung steht, bleiben Widersprüche und diskursive oder persönliche Differenzen aus dem Probenprozess für die Zuschauenden sichtbar.
Mit Witz und Lässigkeit werden kontroverse Deutungen und Repräsentationen eines afrikanischen Selbstverständnisses gegeneinander ausgespielt und jeder westliche Versuch, das Bild des Kontinents zu homogenisieren, lustvoll unterlaufen. Dabei gehen die PerformerInnen verbal und physisch keiner Konfrontation aus dem Weg und scheuen auch vor politisch heiklen Stereotypisierungen nationaler Identitäten nicht zurück – das Unbehagen der weitgehend weißen ZuschauerInnen kommt ihnen gerade recht.
In Chefferie und vielen anderen Arbeiten von Gintersdorfer/Klaßen repräsentiert der Schauspieler Hauke Heumann auf der Bühne die Westler im Publikum, überträgt